Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
meiner Familie zu sein. Später kamen mein Bruder und seine Frau kurz vorbei, um uns zu begrüßen. Es war unser erstes Zusammentreffen seit Jahren. Alle waren versammelt, nur meineNichte fehlte noch. »Gonca hat Spätschicht, sie kommt gegen halb elf«, erzählte meine Schwester, als ich sie fragte.
Dann führte sie mich stolz durch ihr neu renoviertes Haus. Einhundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche, zwei Stockwerke, in jedem Zimmer Parkett und an allen Fenstern aufwendige, volantartige Vorhänge. Das Elternschlafzimmer war neu eingerichtet – Ton in Ton. Auch die Kinderzimmer waren frisch renoviert. Die sechs Kleinen teilten sich jeweils zu zweit ein Zimmer, nur die beiden Großen hatten ihr eigenes Reich. Goncas Zimmer lag im Erdgeschoss zwischen Wohnzimmer und Küche. Die Einrichtung war modern und hell. Ein Bett, ein Sofa, ein Schrank und eine kleine Spiegelkommode. Im Zimmer ihres sechzehnjährigen Bruders standen ein Schreibtisch und ein Computer. Er schlief, wie der Rest der Familie, im ersten Stock. Warum meine Nichte im Erdgeschoss wohnte, begriff ich erst später.
Das Wohnzimmer war riesig, aber noch nicht fertig eingerichtet. Die einzigen Möbelstücke waren eine große Eckcouch mit passendem Tisch, davor thronte in einigen Metern Entfernung ein großer Flachbild-Fernseher. Mit verschiedenen Lautsprecherboxen sorgte er für Kinoatmosphäre. Ich kannte so etwas nur aus Werbeprospekten, und es gefiel mir auch nicht besonders. Die Küche war der einzige noch nicht renovierte Raum im Haus. Dennoch war es in der Einbauküche aus den sechziger Jahren am gemütlichsten. Hier saß ich nach der Besichtigung mit meiner Schwester. Hanife erzählte von den Eltern, denn sie war erst in diesem Sommer in der Türkei gewesen.
Gegen halb elf schließlich ging die Tür auf, und meine Nichte kam herein. Wir fielen uns in die Arme und begrüßten uns herzlich. Ähnlich stürmisch umarmten sich die Cousinen. Sie strahlten über beide Gesichter, Birgül und Gonca hatten sich schon als Kinder gut verstanden und waren sich, trotz der räumlichen Distanz, immer sehr nah gewesen. Die übrige Familie hingegen nahm Goncas Ankunft kaum zur Kenntnis. Während wir in der Küche blieben und ihr beim Essen Gesellschaft leisteten, hatte sich meine Schwester zu ihrem Mann auf die Couch vor denFernseher zurückgezogen, die Jungen vertrieben sich die Zeit mit Playstation. Nur der kleine vierjährige Bruder saß dicht bei seiner großen Schwester. »Akin wartet immer auf mich, egal wie spät ich von der Arbeit komme«, sagte Gonca lächelnd, herzte ihn und nahm ihn auf den Schoß.
Inzwischen war es schon spät geworden, und nach und nach waren alle ins Bett gegangen, ohne uns eine »Gute Nacht« zu wünschen. Birgül und ich sollten in Goncas Zimmer schlafen. Wir zogen uns zurück, aber an Schlaf war nicht zu denken. Gonca war wie aufgezogen. Sie nahm ihr Kopftuch ab und warf es in die Ecke, dann setzte sie sich zu mir aufs Bett und fing an zu erzählen: » Teyze , Tante, es ist so viel passiert, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben.« Dann erzählte sie von ihrem letzten Jahr in der Schule und der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Sie hatte einen richtig guten Realschul-Abschluss gemacht und berichtete stolz von ihren Noten. Und natürlich hatte sie von einem Ausbildungsplatz in einem Büro geträumt. »Ich kann tippen, weiß, wie man mit einem Computer umgeht, und organisieren kann ich auch. Teyze , ich habe mir so sehr eine Lehrstelle gewünscht. Aber es hat nicht geklappt.« Dann erzählte sie, dass sie monatelang gesucht hatte, zuerst nach einer Ausbildungsstelle als Büro- oder Industriekauffrau, schließlich zur Einzelhandelskauffrau. Egal was für ein Beruf es sei, sie wollte nur eine Ausbildung machen. »Weißt du, warum die mich nicht genommen haben, Tante?«, fragte sie mich dann aufgebracht, »wegen des Kopftuchs. Ja! Ein Personalchef hat mir gesagt, er könne keinen Azubi mit einem Kopftuch einstellen. Das würde bei den Kunden nicht gut ankommen. Oh, wie ich es hasse, dieses Kopftuch!« Jetzt weinte sie. »Ich will es nicht mehr tragen. Aber du weißt, wie Papa ist. Er sagt, ich muss. Also muss ich! Da bleibt mir doch nichts anderes übrig, oder?«
Gonca war ziemlich durcheinander. Sie wusste nicht, was richtig und was falsch war. Dann berichtete sie von ihrer Arbeit in der Fabrik. Ähnlich wie ihre Tanten und Cousinen hatte sie inzwischen Arbeit im Ort gefunden, in der Kunststofffabrik. Dortwar sie für sechs Euro die
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