Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter. Das war ein großes Hallo. Auch die beiden hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Nach einer herzlichen Begrüßung saßen wir bald um einen runden Tisch, tranken Tee und unterhielten uns angeregt. Meine Tante und ihr Mann hatten Glück gehabt, ihre Familie funktionierte: Sohn und Tochter hatten jeweils eine Cousine bzw. einen Cousin geheiratet, und alle lebten seit fast zwanzig Jahren friedlich zusammen im gleichen Haus. Sie hatten insgesamt sechs Kinder, die gemeinsam aufwuchsen. Die beiden Elternpaare arbeiteten in der gleichen Fabrik und machten Schichtdienst, so dass immer zwei Erwachsene bei den Kindern waren. Obwohl die Ältesten schon fünfzehn und sechzehn Jahre alt waren, musste immer jemand da sein. Zwei der kleineren Kinder waren nämlich schwer körperlich und geistig behindert.
Während ich die kranke Tochter, die mühsam laufen konnte, im Arm hielt und streichelte, dankte ich Allah , dass er mir vier gesunde Kinder geschenkt hatte. Denn ich war schließlich auch mit einem Cousin ersten Grades verheiratet gewesen. Aber die Familie meines Onkels war nicht unglücklich. Sie hatte ihr Schicksal angenommen und kümmerte sich rührend um die beiden. Stolz erzählte mir meine Cousine von ihrem Leben und was sie inzwischen erreicht hatten. Sie hatten ein Haus hier in Deutschland, das inzwischen abbezahlt war, und zwei weitere Häuser in der Türkei. Eines nutzte die Familie selbst, das andere war vermietet. Obwohl ich mich für sie freute, war ich ein bisschen traurig. So konnte es also auch gehen.
Die nächste Station war mein Bruder. Er und seine Frau erwarteten uns bereits. Auch hier wurde ich überrascht: Das Haus war komplett neu renoviert, und zwar innen und außen. Tja, das warwohl die Quittung dafür, wenn man sich scheiden ließ. Während ich in einer kleinen Sozialwohnung lebte und immer noch Mustafas Schulden zurückbezahlte, besaßen meine beiden Geschwister eigene Häuser.
Das Wiedersehen mit meinem Bruder Bekir verlief herzlicher als das mit meiner Schwester. Zu meiner Schwägerin hatte ich immer schon einen guten Kontakt gehabt. Auch sie erzählte mir von den Eltern in der Türkei und wie sich das Elternhaus inzwischen verändert hatte. Vor ein paar Jahren hatte mein Bruder das alte Haus abreißen lassen und ein großes neues gebaut. Die letzten Arbeiten waren im vergangenen Sommer beendet worden. »Für das Geld hätte ich in Deutschland gerade mal eine Zwei-Zimmer-Wohnung kaufen können«, erzählte er mir. Für meine Eltern war das gut. Weil sie jetzt alle Annehmlichkeiten des Lebens genießen konnten. Gut, Elektrizität und fließendes Wasser hatten sie früher auch schon gehabt, aber nun hatten sie ein gefliestes Bad und eine Einbauküche. Außerdem hatte mein Bruder eine Waschmaschine, einen Kühlschrank und eine große Gefriertruhe angeschafft. Alles Dinge, die meine Eltern bis vor wenigen Jahren nur aus dem Fernsehen kannten.
Mein Bruder war stolz. Auch er schien ein gutes Los gezogen zu haben. Er war seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet und hatte fünf Kinder. Die zwei ältesten Töchter waren bereits verheiratet und hatten eigene Familien gegründet. Sowohl er als auch seine Frau arbeiteten seit vielen Jahren in einer nahe gelegenen Fabrik. Dort waren inzwischen auch die beiden unverheirateten Töchter nach der Schule untergekommen. Eine Ausbildung hatten sie nicht gemacht, »wozu auch?«, sagte meine Schwägerin, »die heiraten doch ohnehin. Außerdem können wir das Geld gut brauchen.«
Wir schwatzten von früher, tranken Tee und aßen eine Kleinigkeit. Die Fotos von den Hochzeiten der beiden Ältesten wurden gezeigt und die neuesten Geschichten von den Enkeln erzählt. Dann kam Gonca vorbei. Sie hatte an diesem Abend früher Schluss gemacht und war fröhlich. Auch Birgül freute sich undüberredete die Cousine zu einem Stadtbummel. Sie fragten mich, ob das in Ordnung sei. Ich stimmte zu, mit der Einschränkung, dass sie spätestens um halb zehn Uhr wieder zu Hause sein sollten. Fröhlich zogen die beiden los, während ich mich weiter mit meinem Bruder und seiner Frau unterhielt. Dann kamen meine ältesten Nichten mit ihren Kindern dazu, und wir vergaßen die Zeit. Nachdem wir für den nächsten Morgen ein gemeinsames Frühstück mit der ganzen Familie vereinbart hatten, brachte mich mein Bruder kurz nach acht zu Hanife.
Im Haus meiner Schwester herrschte dicke Luft. Hanife und mein Schwager Kemal waren verärgert,
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