Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Stunde beschäftigt und arbeitete jeden Tag von zwei Uhr nachmittags bis abends um zehn. » Ich arbeite sogar am Samstag, obwohl ich das eigentlich gar nicht müsste. Aber dort arbeiten ist immer noch besser, als zu Hause zu sein.« Ich wusste, dass meine Schwester keine besonders gute Beziehung zu ihrer einzigen Tochter hatte.
Jeden Tag stand Gonca um sieben Uhr auf und machte ihre Geschwister für die Schule fertig. Sie kochte Tee, schmierte Brote und schälte Obst. Wenn die großen Kinder schließlich um halb acht das Haus verlassen mussten, kümmerte sie sich um die beiden Kleinen. »Das ist eigentlich der einzig gemütliche Teil meines Tages. Ich bin dann mit den beiden allein, und wir frühstücken in aller Ruhe. Um neun oder halb zehn kommt sie , setzt sich wie Königinmutter an den Tisch und lässt sich bedienen.« Gonca hatte sich in Rage geredet. »Weißt du, teyze , es ist nicht so, dass ich ihr den Schlaf nicht gönne, und es macht mir auch nichts aus, ihr den Kaffee einzuschenken. Nein! Aber dass Mutter den ganzen Tag nur rumsitzt, mir die Arbeit anschafft und mich andauernd anschreit, das macht mich fertig.« Jeden Tag müsse sie das Haus putzen, immer wieder an den gleichen Stellen. »Und ich meine, auch bei zehn Leuten im Haus muss man nicht jeden Tag jeden Zentimeter putzen, oder? Das ist doch absurd.« Ich wusste jetzt jedenfalls, warum man Gonca im Erdgeschoss einquartiert hatte. So konnte sie schon mal die Hausarbeit machen, während man im ersten Stock noch ungestört schlief.
Birgül hatte ihrer Cousine zugehört und war sichtlich erschüttert. Wahrscheinlich fing sie an zu begreifen, in welch glücklicher Situation sie selbst lebte: Sie hatte gerade eine Lehrstelle in einem Büro gefunden und half mir im Haushalt nur, wenn sie Zeit und Lust dazu hatte. An den Wochenenden konnte sie aufstehen und zu Bett gehen, wann sie wollte. Keiner zwang sie zu irgendetwas. Und ein Kopftuch trug sie natürlich auch nicht.
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Gonca ging mir ständig durch den Kopf. Warum behandelte meine Schwester ihre einzigeTochter so schlecht? Gut, sie war das erste Kind, und meine Schwester war damals selbst gerade erst achtzehn Jahre alt gewesen und hatte gleich nach der Geburt wieder arbeiten müssen. Also machte sie das, was die meisten von uns taten, sie schickte ihre Tochter in die Türkei. Gonca war also noch kein Jahr alt, als man sie zu den Großeltern väterlicherseits brachte. Aber das war wiederum auch ihr Glück, denn dort erlebte die Kleine eine unbeschwerte, glückliche Kindheit. Sie liebte ihre Großmutter und fühlte sich bei ihr wie zu Hause. Ihre Eltern kannte sie nur von den paar Wochen Urlaub, die sie jedes Jahr in der Türkei verbrachten.
Als Gonca sechs Jahre alt war, holte man sie wieder nach Deutschland, in ein ihr fremdes Land. Wider Erwarten lebte sie sich schnell ein, lernte innerhalb kürzester Zeit Deutsch und wurde ganz normal eingeschult. Aber sie besuchte die Grundschule nur bis zur dritten Klasse, dann schickte man sie wieder zurück in die Türkei. Warum man sie diesmal weggeschickt hatte, weiß ich nicht. Erst als sie fünfzehn Jahre alt war, kam sie endgültig zu ihrer Familie nach Deutschland zurück. Die Eltern waren ihr inzwischen noch fremder geworden, auch ihre Brüder kannte sie kaum. Ein einigermaßen gutes Verhältnis stellte sich lediglich zum Vater ein, die Mutter hielt sie auf Distanz. Aber Gonca hatte – wie ich, als ich nach Deutschland verheiratet wurde – das ideale Alter, zur Haussklavin gemacht zu werden.
Am nächsten Morgen wachte ich wie gerädert auf. Gonca war schon aufgestanden und arbeitete bereits in der Küche. Heute war Samstag, die Kinder mussten nicht in die Schule, und auch mein Schwager war zu Hause. Nach kurzer Zeit kamen alle aus ihren Betten und setzten sich an den gedeckten Frühstückstisch. Als Letzte kam – wie üblich – meine Schwester. Sie setzte sich ihren Jüngsten auf den Schoß, schob ihm liebevoll ein Ei in den Mund und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ihre Tochter würdigte sie keines Blickes, auch mit mir wechselte sie kaum ein Wort. Obwohl wir in der Nacht sehr leise gesprochen hatten, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie genau wusste, wasGonca uns erzählt hatte. Das Gespräch am Tisch war ziemlich einsilbig. Gegen Mittag ging Gonca wieder zur Arbeit, aber sie versprach, an diesem Tag früher zurückzukommen.
Birgül und ich machten uns auf den Weg zu meiner Tante und
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