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Mick Jagger: Rebell und Rockstar

Mick Jagger: Rebell und Rockstar

Titel: Mick Jagger: Rebell und Rockstar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Spitz
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Südstaaten-Farmer erinnert. Es gibt da einen Moment in dem Konzertfilm Gimme Shelter , wo er genau das unter Beweis stellt. Er singt eine Zeile aus Fred McDowells »You Gotta Move« (das die Stones auf Sticky Fingers coverten) so: »Yo got teemove.« Bei den Studioaufnahmen hört man so etwas nur sehr selten. Eine Ausnahme bildet die Coverversion des Willie-Dixon-Songs »I Want to Be Loved«, das als B-Seite der ersten Stones-Single herauskam; hier singt Mick zum Beispiel »wants« statt »want«. Doch die meiste Zeit über war Mick auf der Suche nach einer Synthese aus dem archetypischen Soulman, dem urbanen Bluessänger, den Hipstern, die sie bewunderten, und dem britischen Äquivalent zu alledem – dem einheimischen Cockney. Wie Frank Sinatra oder Billie Holiday hat Mick ein perfektes Rhythmusgefühl. Er ahnt, in welche Richtung die Band steuert, und zieht in seinem eigenen Tempo mit, ohne dabei jemals aus dem Takt zu kommen. Weniger talentierte Sänger als er müssten jedes Wort in Windeseile förmlich ausspucken, wollten sie es ihm gleichtun. Mick hingegen artikuliert deutlich jeden einzelnen Konsonanten. Er lässt ein gezischtes »Yes« wie ein »Yeah« klingen. Sein Gesang strahlt eine große Gelassenheit aus und wirkt selbst dann noch beeindruckend ruhig, wenn der Text eigentlich Wut oder Frust heraufbeschwört. Natürlich drückt das auch eine gewisse Ironie aus. Wer weiß, welche Einflüsse sich sonst noch in seiner Art zu singen niederschlugen. Er suchte überall nach Inspiration. »Er ist ein Schwamm«, schrieb Keith viele Jahre später in seiner Autobiografie. Das ist ein recht zweifelhaftes Kompliment eines entnervten Bandkollegen, der sich an all die Male erinnert, an denen Mick nach einem Diskoabend noch bei ihm reinschaute, weil er irgendeinen neuen Stil aufgesogen und eine Idee für einen Stones-Song hatte. Der ältere Keith winkte in solchen Momenten ab, doch der Teenager wird von Micks Talent, absolut alles in sich aufzunehmen, um es in veredelter Form zu einem Teil des eigenen Stils zu machen, durchaus profitiert haben. Jenseits der Dartforder Schulhöfe und Wohnsiedlungen konnte sich Mick neu erfinden. Jeden Tag lernte er neue Leute kennen – junge Männer und Frauen, Studenten an der LSE –, und in deren Augen konnte er so sein, wie er sein wollte. Manchmal sprach er mit einem harten Cockney-Akzent, den er meisterhaft beherrschte und der wunderbar auf seinen Gesang abfärbte. So könnte er auf Songs wie »Little Red Rooster«, »King Bee« und »Mona« nicht britischer klingen, obschon hier auch eine echte Bluesstimme mitschwingt. Bei der Frage nach der Authentizität geht es letztlich darum, ob man überzeugen kann, wenn man sich auf die Bühne stellt und verkündet: »Das bin ich.« Und dieses »ich« war ein Sammelsurium, eine Mixtur, manchmal ein Kuddelmuddel, gelegentlich auch eine Offenbarung.
    Hinsichtlich seines Äußeren kultivierte Mick bald einen etwas verwegeneren Look, eine Art urbanen, studentischen Boheme-Stil, auf den gewiss auch die bewusste Selbstdarstellung der beiden Kunststudenten Keith und Dick nicht ohne Einfluss war. Er hörte auf, sich regelmäßig zu baden, ließ sich die Haare wachsen, fing an zu rauchen – vielleicht in der Hoffnung, dadurch eine etwas tiefere Stimme zu bekommen – und hing, wenn er nicht an der Uni war, in abgetragenen Pullovern, engen Jeans und Stiefeln in Soho herum. Um ernst genommen zu werden, musste man den Anschein erwecken, allzeit über tiefsinnige Fragen zu grübeln, doch insgeheim war Mick immer noch ein ungemein witziger Kerl, der auch mit seinen lustigen Parodien für reichlich Spaß sorgte.
    Als sich die Möglichkeit ergab, zusammen mit Brian am Edith Grove 102 in ein kleines möbliertes Apartment mit fließend kaltem Wasser zu ziehen, nahm zunächst Mick und später auch Keith die Gelegenheit wahr. Die LSE konnte Mick, der sich gerade auf die Abschlussprüfungen seines ersten Studienjahres vorbereitete, von der Wohnung aus zu Fuß erreichen. Während die winzige Unterkunft allerdings kaum genug Ruhe zum ungestörten Lernen bot, wurde sie bald zu einer Art Ideenschmiede. Jones brachte einen Plattenspieler und ein Radio mit in die WG, und zusammen mit einem weiteren Mitbewohner – ein dürrer Revoluzzer und Bluesfan namens James Phelge – diskutierten und tranken die drei Musiker, bis sie auf einer der Matratzen zusammensackten, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Keith zufolge gab es dabei »keine festgelegte Ordnung«.

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