Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Es war eine Kommune. Zum Zeitpunkt ihres Einzugs im Winter 1962 litt England unter der heftigsten Kältewelle seit zwei Jahrzehnten, und so rückten die zukünftigen Stones oft eng zusammen, um einander zu wärmen. Ein gekochtes Ei oder eine Flasche Cola gab es nur selten; in der Regel ernährte sich die frühe Stones-WG von Kartoffeln. Sie entwickelte sogar einen eigenen Slang. Wenn irgendwas annehmbar war, nannten sie es »Guvnor«, etwas das spießig war, hieß »Ernie«. Es war ein ideales Umfeld für einen jungen, aufstrebenden Künstler, doch Mick musste ständig zwischen der Welt der »Guvnors« und jener der »Ernies« hin und her pendeln. Dafür kam er aber auch raus. Keith und Brian schienen die WG praktisch nie zu verlassen. Mick verbrachte regelmäßig mehrere Stunden auf dem LSE-Campus und fuhr häufig nach Dartford, um eine warme Mahlzeit zu bekommen und saubere Wäsche abzuholen.
Brian Jones versank letzten Endes zwar in einem fortwährenden Rauschzustand, der ihn zum Schluss völlig apathisch werden ließ, doch im Alter von einundzwanzig Jahren war er der Ambitionierteste der späteren Stones. Er war fest entschlossen, eine eigene Band zu gründen und alle Jazz- und Rockfans der Welt in leidenschaftliche Bluesliebhaber zu verwandeln. Zusammen mit Mick und Keith, Dick Taylor am Bass, Ian Stewart am Klavier und wechselnden Drummern – darunter Tony Chapman und der spätere Kinks-Schlagzeuger Mick Avory – probte er wann immer möglich im nahegelegenen Bricklayers Pub. Mit knurrenden Mägen hofften sie alle auf eine Chance, um aus den Erfahrungen, die sie in zweihundert Stunden gemeinsamen Frierens um einen Plattenspieler herum gesammelt hatten, endlich etwas machen zu können. »Brauchen wir Bläser? Brauchen wir Backgroundsänger? Könnten es auch schwarze Backgroundsänger sein? Wie hat er das bloß gemacht? Komm her, ich zeig’s dir. Ja, genau das ist es.« Nebenbei verkehrte Mick die ganze Zeit über auch mit zukünftigen Nobelpreisträgern, anarchistischen Autoren und Parlamentsmitgliedern.
© Philip Townsend/Retna
Die Anti-Beatles vor einem Pub, 1963.
Jeden Montagmorgen nach einem langen Clubwochenende machte sich Mick auf zu seinen Vorlesungen, und wenn er zurückkam, fand er Keith, Brian und Jimmy Phelge genauso vor, wie er sie verlassen hatte: bei der Analyse der Blues- und Popsongs, die sie gerade hörten – und das taten sie mit demselben Eifer, den Mick kurz zuvor noch bei seinen Kommilitonen beobachtet hatte. »Wir schmissen ein paar Singles auf den Plattenteller, legten uns daneben und kommentierten, was wir hörten. Es waren immer wieder dieselben Songs, darunter ›Donna‹ von Ritchie Valens, Jerry Lee Lewis’ ›Ballad of Billy Joe‹, Ketty Lesters ›Love Letters‹, Arthur Alexanders ›You Better Move On‹ und Jimmy Reeds ›Goin’ by the River‹«, schreibt Phelge in seiner Autobiografie Nankering with the Stones . »An manchen Tagen kehrte Mick nicht vor Mitternacht in die Wohnung zurück. Wenn er dann reinkam, fiel er sofort ins Bett; den Abend hatte er wahrscheinlich mit ein paar Kommilitonen von der LSE verbracht. An anderen Tagen kam er überhaupt nicht wieder, ich vermute, dass er dann seine Familie in Dartfort besuchte«, so Phelge. Joe, Eva und Chris blieben die unappetitlichen Details über das Leben am Edith Grove erspart. In gewisser Weise wurde die Welt der »Ernies« für Mick zum Rettungsanker, der ihm jene Distanz verschaffte, die ihm half, die dunklen Jahre der Stones unbeschadet zu überstehen. Mit der Zeit gelang es ihm mit beeindruckender Leichtigkeit, bei Bedarf in einem bestimmten Umfeld voll und ganz aufzugehen, sich aber, falls nötig, ebenso leicht wieder daraus zurückzuziehen. Den anderen, insbesondere Brian und Keith, die in dieser Hinsicht weniger Talent und Interesse zeigten, sollten ihre Angewohnheiten zum Verhängnis werden.
Neben ihren samstäglichen Auftritten im Ealing Club, spielten Korner und Davies bald auch donnerstags abends im Marquee, einem weiteren Treffpunkt der Jazzszene in Soho, der sich in den 60ern zu einem Sprungbrett für Beatmusiker entwickelte. Mit diesem festen Donnerstagstermin kollidierte eines Tages das Angebot an Blues Incorporated, in einer Folge der BBC-Sendung Jazz Club aufzutreten. Aus Angst, den Besitzer des Clubs zu verärgern und das Engagement zu verlieren, bat Korner Brian Jones, zusammen mit seiner Band ersatzweise für ihn und Davies einzuspringen. Zu diesem Anlass musste für die gerade noch im
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