Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon. Aber was soll das alles? Ich verstehe nicht, was das alles soll! «
Ihre Stimme war im Lauf des Satzes kontinuierlich lauter geworden, und das letzte Wort schrie sie geradezu. Dieses emotionale Sprechmuster kannte ich bereits von einigen Telefonaten mit ihr, in denen es nur um die Zwangsversteigerung gegangen war. Jetzt stand mehr auf dem Spiel, und ich musste dem ein Ende setzen.
»Damit ist ab sofort Schluss, Lisa«, erklärte ich bestimmt. »Sie schreien mich nicht an. Haben Sie verstanden? Wenn ich Sie in dieser Sache vertreten soll, schreien Sie mich nicht an.«
»Okay, Entschuldigung, aber die behaupten, ich hätte etwas getan, was ich nicht getan habe.«
»Ich weiß, und dagegen werden wir uns wehren. Aber mit diesem Geschrei ist ab sofort Schluss.«
Weil sie Lisa zurückgebracht hatten, bevor der Einlieferungsprozess begonnen hatte, war sie noch in ihren eigenen Kleidern. Sie trug ein weißes T-Shirt mit einem Blütenmuster auf der Brust. Ich sah weder darauf noch sonst irgendwo Blut. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihr lockiges braunes Haar zerzaust. Sie war eine zierliche Frau, und im grellen Licht des Vernehmungszimmers sah sie noch zerbrechlicher aus.
»Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen«, begann ich. »Wo waren Sie, als die Polizei Sie gefunden hat?«
»Ich war zu Hause. Warum tun die mir das an? «
»Lisa, jetzt hören Sie gut zu. Sie müssen sich beruhigen und mich die Fragen stellen lassen. Das ist sehr wichtig.«
»Aber was soll das alles? Kein Mensch sagt mir etwas. Sie haben gesagt, ich wäre wegen Mordes an Mitchell Bondurant verhaftet. Wann und wie soll ich das gemacht haben? Ich bin doch gar nicht in seine Nähe gekommen. Ich habe nicht gegen die einstweilige Verfügung verstoßen.«
Ich merkte, es wäre besser gewesen, mir vor unserem Gespräch Kurlens DVD anzusehen. Aber es war ganz normal, dass man in einem solchen Fall erst mal im Nachteil war.
»Lisa, man hat Sie tatsächlich wegen Mordes an Mitchell Bondurant verhaftet. Detective Kurlen – das ist der Mann – hat mir gesagt, Sie hätten ihnen gegenüber gewisse Eingeständnisse ge…«
Mit einem lauten Aufheulen riss sie die Hände an ihr Gesicht. Ich sah, dass man ihr Handschellen angelegt hatte. Ein neuer Tränenschwall setzte ein.
»Ich habe nichts zugegeben! Ich habe nichts getan! «
»Beruhigen Sie sich, Lisa. Darum bin ich hier. Um Sie zu verteidigen. Aber im Moment haben wir nicht viel Zeit. Nur zehn Minuten, dann liefern sie Sie ein. Ich muss …«
»Ich komme ins Gefängnis?«
Ich nickte widerstrebend.
»Und wenn ich eine Kaution hinterlege?«
»Bei einem Mord ist es sehr schwer, gegen Kaution freigelassen zu werden. Und selbst wenn ich es irgendwie arrangieren könnte, haben Sie nicht die …«
Ein weiteres durchdringendes Heulen füllte den winzigen Raum. Mir riss der Geduldsfaden.
» Lisa! Lassen Sie das endlich! Und jetzt hören Sie gefälligst zu. Hier steht Ihr Leben auf dem Spiel, ja? Sie müssen sich beruhigen und mir zuhören. Ich bin Ihr Anwalt und werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie hier rauszuholen, aber das wird etwas dauern. Und jetzt hören Sie sich meine Fragen an und versuchen, sie so gut wie möglich zu beant…«
»Und was ist mit meinem Sohn? Was soll aus Tyler werden?«
»Eine Mitarbeiterin setzt sich mit Ihrer Schwester in Verbindung. Wir kümmern uns darum, dass er bei ihr bleiben kann, bis wir Sie hier rausgeholt haben.«
Ich hütete mich, hinsichtlich ihrer Freilassung eine drastischere Formulierung zu verwenden. Bis wir Sie hier rausgeholt haben. Das konnte Tage, Wochen oder sogar Jahre dauern. Vielleicht würde es auch nie dazu kommen. Aber ich brauchte mich ja nicht festzulegen.
Lisa nickte, als hätte die Gewissheit, dass ihr Sohn bei ihrer Schwester unterkäme, etwas Tröstliches.
»Was ist mit Ihrem Mann? Haben Sie eine Nummer, unter der er zu erreichen ist?«
»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist, und ich möchte auch nicht, dass Sie Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Nicht einmal wegen Ihres Sohns?«
»Vor allem nicht wegen meines Sohns. Meine Schwester wird sich um ihn kümmern.«
Ich nickte und beließ es dabei. Das war nicht der Zeitpunkt, um sie nach ihrer gescheiterten Ehe zu fragen.
»Okay, und jetzt ganz ruhig. Lassen Sie uns über heute Morgen reden. Ich habe zwar die DVD mit Ihrer Einvernahme von den Detectives bekommen, aber ich möchte lieber selbst noch mal über alles mit Ihnen sprechen. Sie
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