Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
erklären, aber in manchen Augenblicken sei er nahe daran, alles fahrenzulassen. Mit langsamen Bewegungen hantierte er an den Instrumenten. Und jetzt hinaus, die Höhle könne jeden Moment überschwemmt werden!
Eilig liefen sie ins Freie.
Der Regen hatte an Stärke gewonnen. Das Wasser ergoß sich über sie wie aus Eimern, tränkte ihre Kleider, füllte die Schuhe und machte den Boden so glitschig, daß sie kaum Halt fanden. Sie setzten sich und warteten. Krokodile glitten durch die Gischt. In den Käfigen brüllten die Affen, trommelten an die Türen und rissen an den Gittern. Die zwei Papageien hingen wie durchnäßte Handtücher an ihren Stangen. Der eine glotzte bedrückt vor sich hin, der andere murmelte unablässig Beschwerden in schlechtem Spanisch.
Und was, fragte Humboldt, wenn das Boot nicht zurückkomme?
Das werde es schon, sagte Bonpland. Nur die Ruhe.
Der Regen, als wollte der Himmel sie von der Insel spülen, wurde noch stärker. Der Horizont flackerte von Blitzen, der Donner brach sich an den Uferfelsen jenseits des Flusses, so daß das Echo jedes Schlages sich in den nächsten mischte.
Nicht gut sei das, sagte Humboldt. Sie seien von Wasser umgeben und säßen am höchsten Punkt. Hoffentlich habe Herr Franklin mit seiner Theorie des Blitzschlags unrecht.
Bonpland holte schweigend seine Flasche hervor und trank.
Und er sei überrascht, sagte Humboldt, daß es in den Stromschnellen so viele Echsen gebe. Das widerspreche den Annahmen der Zoologie.
Bonpland nahm noch einen Schluck.
Andererseits habe man ja Beispiele für Fische, die sogar Wasserfälle emporklettern könnten.
Bonpland zog die Augenbrauen hoch. Der Donner war zu einem nicht mehr nachlassenden Getöse geworden. Am anderen Ende der Insel, keine fünfzig Schritte von ihnen, wuchtete sich etwas Großes und Dunkles auf den Stein.
Wenn sie stürben, sagte Humboldt, würde niemand von ihnen erfahren.
Und wenn schon, sagte Bonpland und warf die leere Flasche weg. Tot sei tot.
Humboldt sah besorgt nach dem Krokodil. Falls sie zurück zur Küste kämen, werde er alles seinem Bruder schicken: Pflanzen, Karten, Tagebücher und Sammlungen. Auf zwei getrennten Schiffen. Dann erst werde er zu den Kordilleren aufbrechen.
Den Kordilleren?
Humboldt nickte. Er wolle die großen Vulkane sehen. Die Neptunismusfrage müsse ein für allemal geklärt werden.
Bald wußten sie nicht mehr, wie lange sie warteten. Einmal war eine tote Kuh vorbeigetrieben, dann der Deckel eines Klaviers, dann ein Schachbrett und ein zerbrochener Schaukelstuhl. Humboldt holte vorsichtig die Uhr hervor, horchte auf ihr leises Pariser Ticken und spähte durch die Wachstuchhülle nach den Zeigern. Entweder war der Beginn des Gewitters erst wenige Minuten her, oder sie saßen schon über zwölf Stunden fest, oder aber der Regen hatte nicht bloß Fluß, Wald und Himmel, sondern die Zeit selbst durcheinandergebracht, hatte ein paar Stunden einfach fortgespült, so daß der neue Mittag mit der Nachtstunde und dem nächsten Morgen zusammenfloß. Humboldt legte die Arme um seine Knie.
Manchmal, sagte er, wundere es ihn. Von Rechts wegen hätte er Bergwerke inspizieren sollen. Hätte ein deutsches Schloß bewohnt, Kinder gezeugt, sonntags Hirsche gejagt und einmal im Monat die Stadt Weimar aufgesucht. Und nun sitze er hier, bei Sintflut, unter fremden Sternen, ein Boot erwartend, das nicht kommen werde.
Bonpland fragte, ob es ihm als Fehler erscheine. Schloß, Kinder, Weimar. Das sei doch etwas!
Humboldt nahm seinen Hut ab, den das Wasser in einen nutzlosen Klumpen verwandelt hatte. Eine Fledermaus stieg aus dem Wald, verfing sich im Sturm, wurde vom Regen hinuntergedrückt und nach ein paar Flügelschlägen vom Wasser mitgerissen.
Der Gedanke sei ihm nie gekommen.
Nicht für eine einzige Sekunde?
Humboldt beugte sich vor und spähte nach dem Krokodil. Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.
Die Sterne
Nachdem er angekündigt hatte, wo und wann der Planet zum nächsten Mal auftauchen werde und ihm natürlich keiner geglaubt hatte und der elende Steinklumpen dann doch auf Tag und Stunde genau aus der Nacht getreten war, war er jetzt also berühmt. Die Astronomie war eine populäre Wissenschaft. Könige interessierten sich dafür, Generäle verfolgten ihre Entwicklungen, Fürsten schrieben Preise für Entdeckungen aus, und die Zeitungen berichteten über Maskelyne, Mason, Dixon und Piazzi wie über Helden. Einer, der für immer den Horizont der Mathematik erweitert hatte, war eine
Weitere Kostenlose Bücher