Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
Absichten zu verfolgen freue ich mich, wann immer ich sie zu Gesicht bekomme, genieße es, ihr
nachzusehen, wenn sie wie ein Wirbelwind irgendwo
entlangfegt, und mein Herz lacht, wenn mich ein Blick aus ihren smaragdgrünen Augen streift, selbst wenn er danach sofort weiterwandert, weil ich nicht gemeint bin. Wann immer ich in der Stadt unterwegs bin, richte ich es nach Möglichkeit so ein, dass ich an Brennan's Hotel vorbeikomme; meistens vergebens, aber dann und wann kommt sie doch gerade im
richtigen Moment heraus, etwa um die Blumen vor den blau eingefassten Butzenscheiben des Restaurants zu gießen,
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Hotelgästen den Weg zu einer der Sehenswürdigkeiten Dingles zu erklären oder energisch mit einem der Lieferanten zu reden, die die diversen Dinge abladen, die ein Hotel so braucht.
Zufällig – ich schwöre, dass ich ihr nicht nachspioniere –
habe ich mitbekommen, dass sie ein kleines Häuschen
bewohnt, das sich etwas oberhalb von Dr. O'Sheas Praxis in der Chapel Street hinter zwei größere Wohnhäuser zu ducken
scheint. Und wie es aussieht, lebt sie dort allein, warum auch immer. Sie ist nicht nur schön, sie ist auch geheimnisvoll.
Heute stand ein alter Kleinbus direkt vor dem Hotel, über und über mit vierblättrigen Kleeblättern, Harfen und anderen irischen Symbolen bemalt, und ein verblassender Schriftzug verkündete an der Seite: Finnan's Folk. Das Gefährt einer der zahllosen Bands, die durch die Lande ziehen und in Pubs
traditionelle irische Musik aufführen. Der Fahrer des Busses, ein großer, hagerer Mann mit langen dunkelbraunen und
ähnlich mühsam zusammengebundenen Haaren wie die
Bridgets stand zusammen mit ihr vor der offenen Hoteltür und verhandelte, ein großes aufgerolltes Papier in der Hand, das nur ein Konzertplakat sein konnte. Vermutlich ging es darum, ob er das Plakat am Hotel anschlagen durfte. Genau bekam ich es nicht mit; ich passierte die beiden lediglich in einiger Entfernung, genoss Bridgets Ausstrahlung von Energie und Lebendigkeit und hörte, dass sie Gälisch miteinander sprachen, jene mir absolut unzugänglich scheinende irische Ursprache, die hier in der Gegend immer noch in Gebrauch ist, freilich mit vielfach beklagter rückläufiger Tendenz. Dingle liegt im An Gaeltacht, im gälischen Sprachgebiet. Am Ortseingang steht ein Schild mit dem eigentlichen Namen der Stadt, Daingean Ui Chüis, und es kann nicht schaden, diese Bezeichnung zumindest wiederzuerkennen, denn hier in der Gegend sind auf Wegweisern vor allem die gälischen Ortsbezeichnungen
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aufgeführt und dann erst, und nur, wenn man Glück hat, die englischen.
Als ich bei Dr. O'Shea ankam, war es fast elf Uhr, und ich fühlte mich auch schon fast wieder gesund. Trotzdem klopfte ich an die weiße Eingangstür mit der Mattglasscheibe, wartete, bis eine verschwommene Gestalt in weißem Kittel dahinter auftauchte und aufschloss, schüttelte dann Dr. O'Sheas Hand und ging, seiner einladenden Geste folgend, an ihm vorbei ins Behandlungszimmer.
Es ist ein kleines Haus, zugleich Wohnung und Praxis. Das Erdgeschoss ist durchgehend weiß tapeziert und gestrichen, eine schmale Treppe führt hinauf zu einer Tür mit der
Aufschrift Privat. Der Flur und die Behandlungsräume sind hell, sauber und fürchterlich eng Es riecht nach
Desinfektionsmitteln, an den Wänden hängen Kalender mit
Südseemotiven und Plakate mit medizinischen Hinweisen.
Während der Sprechzeiten stehen in dem ohnehin engen Flur zusätzliche Stühle für Wartende, die um diese Zeit schon weggeräumt waren.
Dr O'Shea ist Anfang vierzig und ungebunden. Man sagt
ihm, sicher nicht zu Unrecht, zahlreiche Affären nach,
bisweilen mit Frauen, die nicht ganz so unverheiratet sind, wie es für irische Moralbegriffe wünschenswert wäre. Es ist also kein Wunder, dass er mit Geheimhaltung so gut umgehen kann, als hatte er einen Intensivkurs bei der CIA absolviert. Seine Sprechstundenhilfen haben mich noch nie zu Gesicht
bekommen. Nirgendwo ist mein Name oder meine Adresse
notiert. Meine medizinischen Unterlagen lauten auf den Namen John Steel, und Dr O'Shea verwahrt sie in einem Geheimfach seines Schreibtisches. Er hat mir die Nummer seines
Privatanschlusses verraten, mit der er äußerst wählerisch umgeht, und ich hatte keine Bedenken, ihm als einzigem
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Menschen auf der Welt die meines Mobiltelefons
anzuvertrauen.
»Sie sehen besser aus, als ich Ihrem Anruf nach erwartet hatte«, sagte er, nachdem er die Tür des Behandlungszimmers
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