Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
kullern aus 29
meinen Augen. Meine Nase läuft. Ich weiß, dass es für mich keinen Ausweg gibt. Ich habe nicht den Mut, dem Polizisten in die Augen zu schauen.
»Crestline Avenue, Sir«, sage ich leise.
» Crestline Avenue?«, fragt der Polizist.
»Ja, Sir. Crestline Avenue Nummer 40. «
» Gut so, David. Was immer dein Problem sein mag, ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden werden. «
Ich gebe ihm die Telefonnummer, und der Polizist verschwindet für kurze Zeit. Nach seiner Rückkehr kommt er erneut auf die Pizza zu sprechen.
Ich nehme dasselbe Stück Pizza wie vorhin in die Hand.
Es ist kalt und durchgeweicht. Ich würde ja so gerne essen, aber meine Gedanken sind Millionen Kilometer weit weg. Mit einem Lächeln versichert mir der Polizist: »Es wird schon alles wieder gut werden. «
»Schön wär's ja!«, sage ich zu mir selbst. »Aber das einzige Mal, wo ich mich je sicher, geborgen und geliebt gefühlt habe, war, als ich noch ein kleines Kind war. «
Damals war ich fünf, als die Familie auf mich wartete -
damals, als ich am letzten Tag der Vorschule die Straße heraufgerannt kam. Ich sehe noch immer Mamas Gesicht vor mir, wie es Liebe ausstrahlte, und wie sie rief »Komm, mein Liebling. Komm her, David! « Nachdem sie mich fest in die Arme genommen hatte, öffnete sie mir die Autotür. Dann machte sie die Tür zu, und Vater brauste davon. Unser Ziel war der Fluss. In jenem Sommer brachte mir Mama das Rückenschwimmen bei. Ich hatte Angst, aber Mama blieb bei mir, bis ich gelernt hatte, mich ganz allein auf dem Wasser treiben zu lassen. Ich war ja so stolz, als ich es ihr vormachen und ihr damit zeigen konnte, dass ich jetzt ein 30
großer Junge war, dass ich ihrer Aufmerksamkeit und ihres Lobes würdig war. Dieser Sommer war die schönste Zeit in meinem Leben. Doch jetzt, da ich vor diesem Polizisten sitze, weiß ich, dass es nie wieder so sein wird wie damals.
Meine schönen Zeiten sind jetzt nur noch Erinnerungen.
Der Polizist schaut auf. Ich drehe mich um. Da steht mein Vater hinter mir, in einem seiner roten Baumwollhemden.
Ein anderer Polizist nickt dem Beamten, der bei mir sitzt, zu.
»Mr. Pelzer? «, fragt der Polizist neben mir.
Mein Vater nickt. Die beiden verschwinden in einem Büro.
Der Polizist schließt die Tür. Wenn ich doch nur hören könnte, was sie sagen! Ich bin sicher, dass es um mich geht und um meinen ständigen Streit mit Mutter. Nur gut, dass nicht sie gekommen ist, aber irgendwie weiß ich, dass sie es niemals riskieren würde, sich einer Autoritätsperson auszusetzen. Ich weiß, dass sie immer Vater die Drecksarbeit machen lässt. Sie hat Vater unter Kontrolle - so wie sie versucht, alle zu kontrollieren. Vor allem weiß ich, dass sie das Geheimnis verbergen muss. Niemand darf je von unserer ganz speziellen Beziehung erfahren. Aber ich weiß, dass sie langsam den Halt verliert. Sie verliert die Kontrolle. Ich versuche, darüber nachzudenken, was das heißt. Um überleben zu können, muss ich vorausdenken.
Ein paar Minuten später knarrt die Bürotür. Vater kommt heraus und schüttelt dem Polizisten die Hand. Dieser kommt auf mich zu. Er beugt sich zu mir herunter. »David, das war doch nur ein kleines Missverständnis. Dein Vater hat mir erzählt, dass du dich furchtbar aufgeregt hast, als deine Mutter dir verboten hat, mit deinem Fahrrad zu fahren. Aus einem solchen Grund braucht man doch nicht wegzulaufen.
So, jetzt gehst du mit deinem Vater nach Hause, und du und deine Mutter, ihr einigt euch und vertragt euch wieder. Dein 31
Vater hier sagt, dass sie sich fürchterliche Sorgen um dich gemacht hat. « Dann ändert sich der Ton seiner Stimme und er zeigt mit dem Finger auf mich. » Und dass du mir deinen Eltern nie wieder so etwas antust! Ich hoffe, du hast daraus gelernt. Es kann nämlich da draußen ganz schön gefährlich sein«, sagt er und zeigt nach draußen.
Ich stehe vor dem Polizisten und kann das alles nicht
glauben. Was ich da höre, das gibt es doch nicht! Ich und Fahrrad fahren? Ich habe überhaupt kein Fahrrad! Ich bin überhaupt noch niemals Fahrrad gefahren! Am liebsten würde ich mich umdrehen, um zu sehen, ob er nicht vielleicht mit einem anderen Kind spricht. Von hinten sieht Vater auf mich herab. Seine Augen sind leer. Ich merke, dass dies nur eine von Mutters Geschichten ist, mit denen sie sich herausredet. Das passt zu ihr.
» Und noch eins, David«, sagt der Polizist. »Du solltest deine Eltern mit Achtung und Respekt
Weitere Kostenlose Bücher