Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
wühlen.
Ehe ich ging, beugte sich mein Klassenlehrer, Mr.
Ziegler, zu mir herunter, um sich zu verabschieden. Er schüttelte mir die Hand und sagte, ich solle ein guter Junge werden. Und dann flüsterte er mir noch ins Ohr, dass er meiner Klasse die Wahrheit über mich sagen werde. Ich wollte ja so gern geliebt und anerkannt werden, von meiner Klasse, meiner Schule - eigentlich von allen.
Der Polizist musste mich sanft durch die Tür des Schulsekretariats drängen. »Komm, David, wir müssen los. « Ich putzte meine Nase, ehe ich hinausging.
Millionen Gedanken
schwirrten in meinem Kopf herum - und alle waren schlimm. Ich hatte fürchterliche Angst vor den Folgen, wenn Mutter herausfinden würde, was los war. So war Mutter nämlich noch nie jemand in die Quere gekommen. Wenn sie dahinter käme, das wusste ich, dann würde ich die Hölle auf Erden erleben.
Als mich der Polizist zu seinem Auto führte, konnte ich hören, wie alle Schulkinder während der Mittagspause auf dem Hof spielten. Als wir abfuhren, drehte ich mich um, um einen letzten Blick auf den Schulhof zu erhaschen. Ich verließ die Thomas-Edison-Grundschule, ohne einen einzigen Freund zu haben.
Wirklich bedauert habe ich nur, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich von meiner Englischlehrerin, 37
Mrs. Woodworth, zu verabschieden, die an jenem Tag krank war. In der Zeit, als ich Mutters Gefangener war, half mir Mrs. Woodworth, ohne es zu wissen, dabei, meiner Einsamkeit mit Hilfe von Büchern zu entfliehen.
Ich hatte Hunderte von Stunden in der Dunkelheit mit der Lektüre von Abenteuerbüchern verbracht. Irgendwie linderte das meine Schmerzen.
Nachdem er auf der Polizeistation einige Formulare ausgefüllt hatte, rief der Polizist Mutter an, um ihr Bescheid zu sagen, dass ich an diesem Nachmittag nicht nach Hause kommen würde. Wenn sie Fragen hätte, könne sie ja das zuständige Jugendamt anrufen.
Ich saß aufrecht wie eine Statue und spürte sowohl schreckliche Angst als auch freudige Erregung, als der Polizist ins Telefon sprach. Ich konnte mir nur vorstellen, was jetzt in Mutters Kopf vorging. Als der Polizist mit trockener Stimme am Telefon sprach, konnte ich im Geiste die Schweißperlen auf ihrer Stirn sehen. Als er aufgelegt hatte, fragte ich mich einen Moment lang, ob jemals jemand anders nach einem Gespräch mit Mutter dieselbe Erfahrung gemacht hatte.
Dem Polizisten schien es sehr wichtig zu sein, dass wir die Polizeistation umgehend verließen. Da war es nicht gerade hilfreich, dass ich ihm auf die Nerven ging, indem ich immer wieder auf und ab hüpfte und fragte:
»Was hat sie gesagt? Was hat sie gesagt?« Der Polizist weigerte sich, mir zu antworten. Er schien erst erleichtert zu sein, als wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten. Da beugte er sich zu mir herunter und sagte: »David, du bist frei. Deine Mutter wird dich nie wieder verletzen.«
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Die volle Bedeutung dieser Aussage konnte ich gar nicht ganz erfassen. Ich hatte gehofft, er würde mich in irgendeine Art Gefängnis bringen, zu all den anderen schlechten Kindern - so wie es Mutter mir jahrelang einprogrammiert hatte. Ich hatte mich schon vor langer Zeit entschieden, dass ich lieber im Gefängnis leben würde als auch nur eine einzige Minute länger bei ihr.
Ich wandte mich von der Sonne ab. Eine einzelne Träne rollte mir die Wange hinab.
Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich mir immer die Tränen abgewischt und hatte mich dann in mein Schneckenhaus zurückgezogen. Doch diesmal weigerte ich mich, die Träne abzuwischen. Ich spürte, wie sie meine Lippen erreichte, schmeckte das Salz und ließ die Träne auf meiner Haut trocknen, während die Sonnenstrahlen durch die Windschutzscheibe für Wärme sorgten. An diese Träne wollte ich mich nicht als Angst-, Wut- oder Sorgenträne erinnern, sondern als Freudenträne, als Freiheitszeichen. Ich wusste, dass von diesem Augenblick an alles in meinem Leben anders war.
Der Polizist fuhr mich zum Kreiskrankenhaus. Ich wurde sofort in ein Untersuchungszimmer gebracht. Mein Anblick schien die Schwester zu schockieren. So sanft wie möglich badete sie meinen ganzen Körper und wusch ihn von oben bis unten mit einem Schwamm, ehe mich der Arzt untersuchte. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich schämte mich so, als ich da auf dem kalten, metallenen Untersuchungstisch saß und nur meine schmutzige, durchlöcherte Unterwäsche trug. Als mir die Schwester das Gesicht wusch, drehte ich mich 39
weg und kniff die Augen so
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