Middlesex
vor und sah sich, zehn Jahre später, schon in einer Welt aus Lenkrädern und Leistenbrüchen gefangen. Eine Tochter als Widerstandskämpferin musste her: eine, die wie sie Schoßhündchen liebte, die ihren Vorschlag unterstützte, zur »Ice Capades«-Revue zu gehen. Im Frühjahr 1959, als die Diskussionen über meine Zeugung schon im Gange waren, konnte meine Mutter nicht voraussehen, dass die Frauen bald tausendfach ihre Büstenhalter verbrennen würden. Ihre waren wattiert, steif, feuerfest. Sosehr Tessie ihren Sohn auch liebte, wusste sie doch, dass es gewisse Dinge gab, die sie nur mit einer Tochter würde teilen können.
Morgens auf der Fahrt zur Arbeit hatte mein Vater Visionen von einem unwiderstehlich süßen, dunkeläugigen kleinen Mädchen gehabt. Es saß auf dem Sitz neben ihm - meistens bei Rot -und richtete Fragen an sein geduldiges, allwissendes Ohr. »Wie nennt man das da, Daddy?« - »Das? Das ist das Cadillac-Emblem.« - »Was ist das Cadillac-Emblem?« - »Also, vor langer Zeit gab es mal einen französischen Forscher namens Cadillac, und der hat dann Detroit entdeckt. Und das Emblem war sein Familienwappen, aus Frankreich.« - » Was ist Frankreich?« - »Frankreich ist ein Land in Europa.« - »Was ist Europa?« - »Das ist ein Kontinent, und der ist wie ein großes Stück Land, viel, viel größer als ein Staat. Aber Cadillacs kommen nicht mehr aus Europa, koukla. Sie kommen von hier, aus den guten alten USA.« Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr weiter. Doch mein Prototyp blieb. Das Mädchen war auch noch an der nächsten und der übernächsten Ampel da. So angenehm war es mit ihr, dass mein Vater, ein Mann voller Tatendrang, beschloss zu überlegen, was er tun könnte, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
So kam es: Seit einiger Zeit erörterten die Männer im Wohnzimmer, wo sonst politisiert wurde, nun auch die Geschwindigkeit von Sperma. Peter Tatakis, »Onkel Pete«, wie wir ihn nannten, war ein führendes Mitglied des Debattierclubs, der sich wöchentlich auf unseren schwarzen Zweiersofas zusammenfand. Als ewiger Junggeselle hatte er in Amerika keine Familie und sich deshalb der unseren angeschlossen. Jeden Sonntag kam er, ein hoch gewachsener, backpflaumengesichtiger, traurig wirkender Mann mit gewelltem Haar, dessen Vitalität überhaupt nicht zu ihm passen wollte, in seinem rotweinfarbenen Buick bei uns vorbei. Kinder interessierten ihn nicht. Der Freund der Great Books- Reihe die er gleich zweimal gelesen hatte - beschäftigte sich mit ernsthaftem Denken und der italienischen Oper. In der Geschichte galt seine Leidenschaft Edward Gibbon und in der Literatur den Aufzeichnungen der Madame de Stae'l. Gern zitierte er, was jene geistreiche Dame über die deutsche Sprache gesagt hatte, nämlich dass sich das Deutsche nicht für eine Unterhaltung eigne, da man immer bis zum Satzende auf das Verb warten müsse und darum niemandem ins Wort fallen könne. Onkel Pete hatte Arzt werden wollen, doch die »Katastrophe« hatte diesen Traum beendet. In den Vereinigten Staaten angekommen, hatte er sich zwei Jahre lang an einer Chiropraktikerschule gequält, und seitdem besaß er eine kleine Praxis im Detroiter Vorort Birmingham mit einem menschlichen Skelett, dessen Raten er noch immer abbezahlte. In jener Zeit hatten Chiropraktiker noch einen etwas zweifelhaften Ruf. Zu Onkel Pete ging man nicht, um sich die Kundalini erwecken zu lassen. Er ließ Hälse knacken, richtete Wirbelsäulen ein und machte maßgefertigte Senkfußeinlagen aus Schaumgummi. Gleichwohl war er Sonntag nachmittags derjenige bei uns im Haus, der einem Arzt am nächsten kam. Als junger Mann hatte er sich den halben Magen entfernen lassen, und nun trank er nach dem Essen immer eine Pepsi-Cola, um der Verdauung seines Mahls auf die Sprünge zu helfen. Diese Limonade sei nach dem Verdauungsenzym Pepsin benannt, klärte er uns weise auf, und daher für diese Aufgabe genau das Richtige.
Diese Art von Wissen flößte meinem Vater Vertrauen ein in das, was Pete über die Fortpflanzungszyklen sagte. Den Kopf auf einem Zierkissen, die Schuhe abgestreift, die Anlage meiner Eltern spielte leise Madame Butterfly, erklärte Onkel Pete, man habe unterm Mikroskop beobachtet, dass Spermien mit männlichen Chromosomen schneller schwömmen als die mit weiblichen. Diese Behauptung löste unter den in unserem Wohnzimmer versammelten Restaurantbesitzern und Pelzappreteuren Heiterkeit aus. Mein Vater allerdings nahm die Haltung seiner
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