Middlesex
und geglaubt, sie gehörten bald der Vergangenheit an. In diesem optimistischen Nachkriegsamerika, dessen Ende ich gerade noch erhaschte, war ein jeder Herr über das eigene Schicksal, also war es nur folgerichtig, dass auch mein Vater versuchte, Herr über seines zu sein.
Einige Tage nachdem er Tessie seinen Plan eröffnet hatte, kam Milton abends mit einem Geschenk nach Hause. Es war ein Schmuckkästchen, das mit einem Zierband verschnürt war.
»Was soll das?«, fragte Tessie argwöhnisch.
»Was meinst du, was soll das?«
»Ich habe nicht Geburtstag. Es ist nicht unser Hochzeitstag. Also warum schenkst du mir was?«
»Brauche ich denn einen Anlass, um dir was zu schenken? Los. Mach's schon auf.«
Wenig überzeugt verzog Tessie einen Mundwinkel. Aber es war schwierig, ein Schmuckkästchen in der Hand zu halten, ohne es zu öffnen. Deshalb streifte sie das Band schließlich ab und klappte das Kästchen auf.
Darin lag auf schwarzem Samt ein Thermometer.
»Ein Thermometer«, sagte meine Mutter.
»Das ist nicht irgendein Thermometer«, sagte Milton. »Das habe ich erst in der dritten Apotheke gekriegt.«
»Eine Luxusausführung, hm?«
»Genau«, sagte Milton. »Das nennt man ein Basalthermo meter. Es zeigt die Temperatur bis auf ein Zehntelgrad.« Er hob die Brauen. »Normale Thermometer zeigen nur jedes zweite Zehntel. Das da zeigt jedes Zehntel. Versuch's mal. Steck's dir in den Mund.«
»Ich hab aber kein Fieber«, sagte Tessie.
»Es geht nicht um Fieber. Damit erfährst du deine Grundtemperatur. Es ist genauer und präziser als ein normales Fieberthermometer.«
»Das nächste Mal aber bitte eine Halskette.«
Doch Milton blieb hartnäckig. »Deine Körpertemperatur ändert sich ständig, Tess. Das merkst du zwar nicht, aber es ist trotzdem so. Du bist unablässig im Fließen, temperaturmäßig. Sagen wir« - ein kleines Hüsteln -, »du hast gerade deinen Eisprung. Dann steigt deine Temperatur. In den meisten Fallstudien um sechs Zehntel eines Grades. Also«, fuhr mein Vater fort, der in Fahrt geraten war und nicht merkte, dass seine Frau die Stirn runzelte, »würden wir die Methode anwenden, über die wir neulich gesprochen haben - nur so als Beispiel -, dann würdest du erst deine Grundtemperatur ermitteln. Die muss gar nicht sechsunddreißig-acht sein. Jede ist da ein bisschen anders. Auch das habe ich von Onkel Pete gelernt. Jedenfalls, wenn du erst mal deine Grundtemperatur ermittelt hättest, würdest du auf diesen Sechszehntelgrad- Anstieg warten. Und dann, wenn wir das wirklich durchspielen würden, dann würden wir wissen, wann wir, na ja, den Cocktail mixen müssten.«
Meine Mutter sagte nichts. Sie legte nur das Thermometer in das Kästchen, klappte es zu und gab es ihrem Mann zurück.
»Na gut«, sagte er. »Schön. Wie du willst. Dann kriegen wir eben noch einen Jungen. Nummer zwei. Wenn du das willst, meinetwegen.«
»Ich weiß im Augenblick gar nicht, ob wir überhaupt etwas machen«, entgegnete meine Mutter.
Unterdessen wartete ich in meiner Garderobe auf meinen Auftritt in der Welt. Im Auge meines Vaters noch nicht einmal ein Funkeln (er starrte düster auf das Thermometerkästchen auf seinem Schoß). Meine Mutter steht jetzt von dem Zweiersofa auf. Sie geht zur Treppe, eine Hand an der Stirn, und die Wahrscheinlichkeit, dass es je etwas mit mir wird, rückt in immer weitere Ferne. Dann steht mein Vater auf und macht sich auf seine Runde, schaltet Lampen aus, sperrt Türen ab. Als er die Treppe hinaufgeht, ist wieder Hoffnung für mich. Das Timing musste ganz präzise sein, damit ich zu der Person werden konnte, die ich bin. Auch nur eine Stunde Verzögerung, und die Zusammensetzung der Gene ist eine andere. Bis zu meiner Empfängnis war es noch Wochen hin, aber meine Eltern hatten mit ihrer langsamen Kollision bereits begonnen. Oben im Gang brennt das Akropolis-Nachtlicht, ein Geschenk von Jackie Halas, die einen Souvenirladen hat. Meine Mutter sitzt an ihrem Toilettentisch, als mein Vater das Schlafzimmer betritt. Mit zwei Fingern reibt sie sich Noxzema ins Gesicht und wischt es mit einem Papiertuch wieder ab. Mein Vater hätte nur ein liebevolles Wort zu sagen brauchen, und sie hätte ihm verziehen. Dann wäre in dieser Nacht nicht ich, sondern jemand mir Ähnliches gezeugt worden. Eine unendliche Zahl möglicher Ichs drängten sich auf der Schwelle, darunter auch ich, aber ohne Ticket-Garantie, die Stunden vergehen langsam, die Planeten am Firmament ziehen im üblichen Tempo
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