Midnight Breed 04 - Gebieterin der Dunkelheit-neu-ok-14.11.11
konnten
auch die Überzeugungsversuche ihrer Mutter nicht viel ausrichten, die immer
wieder sagte, dass Dylan eines Tages schon den Richtigen finden würde. Und zwar
genau dann, wenn sie es am wenigsten erwartete.
Sharon war
ein unabhängiger Geist mit einem großen Herzen, auf dem unwürdige Männer nur
allzu oft herumgetrampelt hatten, und nun hatte auch noch das Schicksal mit
seiner ganzen Ungerechtigkeit zugeschlagen. Und doch lächelte sie, nahm ihre
ganze Willenskraft zusammen und machte einfach weiter. Sie hatte gekichert, als
sie Dylan anvertraut hatte, dass sie sich für die Flusskreuzfahrt extra ein
neues Kleid gekauft hatte. Sie hatte es ausgesucht, weil es schmeichelhaft
geschnitten war und weil seine Farbe so sehr der Farbe von Mr. Fassos Augen
ähnelte. Aber während Dylan mit ihrer Mutter herumalberte und sie davor warnte,
nicht allzu schamlos mit dem offenbar gut aussehenden und unverheirateten
Philanthropen zu flirten, brach ihr fast das Herz.
Sharon gab
sich solche Mühe, ihr altes, dynamisches Selbst zu sein, aber Dylan kannte sie
zu gut. Dass ihre Stimme etwas zu atemlos klang, konnte nicht an der schlechten
Übersee Verbindung des böhmischen Städtchens Jicín liegen, wo Dylan und ihre
Reisegefährtinnen die Nacht verbrachten. Sie hatte nur etwa zwanzig Minuten mit
ihrer Mutter gesprochen, aber als sie auflegten, hatte Sharon sich bereits
völlig erschöpft angehört.
Dylan stieß
einen zittrigen Seufzer aus, klappte ihren Laptop zu und legte ihn neben sich
auf das schmale Bett. Vielleicht hätte sie doch mit Janet, Marie und Nancy auf
ein Bier und Bratwürste in die Kneipe gehen sollen, statt im Hotel zu bleiben,
um zu arbeiten. Sie hatte vorhin nicht viel Lust auf Gesellschaft gehabt - um
ehrlich zu sein, hatte sie die auch jetzt nicht -, aber je länger sie allein in
diesem winzigen Einzelzimmer saß, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wie
einsam sie wirklich war. Die Stille um sie herum machte es schwer, an etwas
anderes zu denken als an die entsetzliche, endgültige Stille, die ihr Leben
erfüllen würde, sobald ihre Mutter...
Oh Gott.
Dylan war
nicht einmal bereit, dieses Wort auch nur zu denken.
Sie schwang
die Beine aus dem Bett und stand auf. Das Fenster im ersten Stock, das auf die
Straße hinausging, war einen Spalt weit geöffnet, um etwas Luft hereinzulassen,
aber Dylan fühlte sich beengt, erdrückt. Sie öffnete das Fenster ganz und nahm
einen tiefen Atemzug, während sie zusah, wie unten auf der Straße Touristen und
Einheimische vorbeiflanierten.
Und verdammt
noch mal, da draußen war wieder die Erscheinung.
Die Frau in
Weiß stand mitten auf der Straße, unbehelligt von den Passanten und dem
Verkehr, der sie umrauschte. Ihr Bild war durchsichtig im Dunkeln, der Umriss
viel unbestimmter als vorhin, und er verblasste jede Sekunde mehr. Aber ihre
Augen waren wieder fest auf Dylan gerichtet. Dieses Mal sprach die Erscheinung
nicht, sondern starrte sie nur mit einer trostlosen Resigniertheit an, die
Dylans Herz schwer werden ließ.
„Geh weg“,
flüsterte sie der Erscheinung zu. „Ich weiß nicht, was du von mir willst, und
momentan habe ich wirklich andere Sorgen.“
Ein Teil von
ihr schnaubte verächtlich. Gerade jetzt, wo ihr Job an einem seidenen Faden
hing, konnte es nicht in ihrem Sinn sein, Besucher von der Anderen Seite
abzuweisen. Nichts würde ihrem Chef, Coleman Hogg, eine größere Freude machen als
eine Reporterin, die wirklich und wahrhaftig die Fähigkeit besaß, Tote zu
sehen. Zur Hölle noch mal, der opportunistische Mistkerl würde wahrscheinlich
sofort einen brandneuen Geschäftszweig aufziehen, mit ihr als Hauptattraktion.
Sonst noch
was.
Einem einzigen
Mann hatte sie erlaubt, die seltsame, wankelmütige Gabe, mit der sie geboren
worden war, zu Geld zu machen - und was war daraus geworden? Dylan hatte ihren
Vater nicht mehr gesehen, seit sie zwölf war. Bobby Alexanders letzte Worte an
seine Tochter, bevor er für immer aus der Stadt und aus ihrem Leben verschwand,
war eine üble Tirade von Obszönitäten gewesen, vorgetragen mit offenem Abscheu.
Es war einer
der schlimmsten Tage in Dylans Leben gewesen, aber sie hatte ihre Lektion
daraus eindrucksvoll gelernt: Nämlich, dass es nur äußerst wenige Menschen gab,
denen man vertrauen konnte. Wenn man überleben wollte, hielt man sich am besten
an Vertrauensperson Nummer eins: sich selbst.
Diese
Lebensphilosophie hatte ihr immer gute Dienste geleistet.
Eine einzige
Ausnahme gab es natürlich:
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