Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
gewesen. Er hatte sie mit solcher Wildheit begehrt, und sobald sie vor
ihm gestanden hatte - Traum hin oder her - , war er einfach nicht mehr dazu in
der Lage gewesen, sie von sich zu stoßen. Es war der andere Teil des Traumes,
den er bedauerte.
Den er jedoch genauso wenig hatte verhindern
können. Er hatte nicht die Absicht gehabt, Claire mitten in das Gemetzel seines
Dunklen Hafens zu führen, ebenso wie er sie dem anderen Albtraum, der ihn schon
so lange verfolgte und der ihn nie loslassen würde, hatte aussetzen wollen.
Niemand sollte diese Art von Horror mit ansehen
müssen, sie am allerwenigsten.
Nichts von alldem war ihre Schuld, aber das
hatte sein Unterbewusstes nicht davon abgehalten, sie mitten in das Gemetzel
hineinzuprojizieren, und, noch schlimmer, in der Rolle von Helene.
Seine Schuldgefühle wegen allem, was seinen
Verwandten und Helene geschehen war, tobten immer noch als wilder Schmerz in
seiner Seele.
Und ja, vielleicht machte er sich in einem
paranoiden Winkel seiner Seele doch Sorgen, dass Claire genau wie Helene gegen
ihn benutzt werden konnte - dass ihre Blutsverbindung ihn irgendwie an Roth verraten
könnte. Es gab nicht mehr viel, was Roth ihm noch antun konnte; er hatte ihm
schon alles genommen, was er hatte.
Aber er konnte Claire etwas antun.
Reichen hatte mehr erlitten und überlebt, als
er geglaubt hatte, ertragen zu können. Wenn Claire etwas zustieß, weil sie
unfreiwilligerweise in seinen Rachefeldzug hineingezogen worden war, wusste er
ohne jeden Zweifel, dass es ihm den Rest geben würde. Es würde ihn umbringen.
„Sie ist schon zu lange fort“, murmelte er, als
ein seltsames Gefühl von Leere sich in seiner Brust auszubreiten begann. „Da
stimmt etwas nicht.“
Elise drehte sich vom Beifahrersitz zu ihm um.
„Stimmt. Ich gehe mal nach ihr sehen.“
Tegans Stammesgefährtin stieg aus dem
Geländewagen und ging auf das Terminalgebäude zu, in dem Claire verschwunden
war. Keine Minute später war sie schon wieder zurück, ihr Gesicht vor Sorge
angespannt, als sie zum Wagen zurückeilte.
„Sie ist nicht in der Toilette. Ich habe alle
Kabinen überprüft und die Halle davor im Terminalgebäude.
Sie ist nicht dort.“
„Verdammt. Steig ein, Schatz“, sagte Tegan zu
Elise.
„Weit kann sie nicht sein. Wir fahren, bis wir
sie gefunden haben.“
„Nein.“ Reichen öffnete die Tür und stieg aus.
„Ich kümmere mich darum. Ich glaube, ich weiß, wohin sie gegangen ist.“
Er konzentrierte sich auf die Blutsverbindung,
die ihm sagte, dass sie sich weiter von ihm fortbewegte, und richtete all seine
Sinne auf sie wie ein Suchscheinwerfer. Die Verbindung würde ihn zu ihr führen,
aber selbst ohne sie hatte er das Gefühl, dass er wusste, wo Claire Zuflucht
suchen würde, wenn sie sich von allem überrollt und verwirrt fühlte.
Tegan ließ sein Fenster herunter und richtete
seine durchdringenden smaragdgrünen Augen auf ihn.
„Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?“
Reichen schüttelte den Kopf. „Fahrt ohne mich.
Ich muss ihr nach.“
Tegan nickte ihm zu, dann griff er in seine
Jackentasche und zog ein Handy heraus. „Nimm das.
Die letzten zwei Kurzwahllasten verbinden dich
mit dem Hauptquartier.“
„Danke“, sagte Reichen. „Ich melde mich, sobald
ich kann.“
15
Claires Schritte hallten hohl auf dem nackten
Fußboden im Haus ihrer Großmutter. Sie war schon sehr lange Zeit nicht mehr in
dem prächtigen viktorianischen Anwesen gewesen, das an der rauen Küste der
Narragansett Bay stand, aber es fühlte sich noch ganz so an wie damals.
Es roch auch immer noch so wie früher, nach
altem Holz und Möbelpolitur und frischer Salzluft. Natürlich hatte sich viel
verändert in der Zeit, die sie nicht mehr hier gewesen war - seit sie es als
junge Frau verlassen hatte, um ihre Studien in Deutschland zu beginnen. Ihre
Großmutter war inzwischen verstorben, und nun wurde das Anwesen treuhänderisch
verwaltet, da sie die einzige Erbin war, der letzte Spross der Familie ihrer
Mutter.
Nicht einmal Wilhelm wusste von diesem Ort. Sie
hatte seine Existenz für sich behalten und war nun froh, dieses Geheimnis vor
ihm bewahrt zu haben.
Die Hausverwalter, die seit dem Tod ihrer
Großmutter aus ihrem Erbe bezahlt wurden, hatten bei der Instandhaltung des
Hauses und des weitläufigen Grundstücks hervorragende Arbeit geleistet. Wie
vertraglich festgelegt, wurde ein Ersatzschlüssel hinter einem losen Ziegel im
Fundament neben der Veranda aufbewahrt - am
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