Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
der Angst ins Auge zu schauen, sie wegzudenken oder wegzubekämpfen. Denn dadurch versäumen wir es, die unerhörten Fragen zu hören, zu zögern und zu zaudern und die noch nicht gegebenen Antworten zu suchen, zu finden, zu geben und zu verantworten.
Ach ja, ehe wir es vergessen: Was ist aus unserem an Erleuchtung interessierten Zen-Schüler und seinem im morgendlichen Meditationsdösen gestörten Meister geworden?
Eben noch gut gestimmt und voller Tatendrang, bemerkt unser Zen-Schüler schnell, dass er mit den altbekannten Antwortmöglichkeiten nicht durchkommt. Beides hätte zur Folge, dass er Schläge bekommt. Und das weiß er nun sicher: Das möchte er nicht. Aber damit weiß er noch nicht, was er möchte, was er antworten will. Er ist unsicher. Er fühlt sich bedroht. Er hat Angst. Er zaudert und beginnt ängstlich, nach Antworten zu suchen. Er fühlt sich wie in einem Schwebezustand und weiß nicht, wie er wieder auf den sicheren Boden kommen kann. So viel ist ihm aber klar: Die beiden möglichen Antworten – es ist ein Stock/es ist kein Stock – kommen nicht in Frage, denn dann gibt es Haue.
Zunächst kommen ihm also nur Fragen: Was könnte eine Antwort sein, die der Frage des Meisters nicht ausweicht, aber keine der vorgegebenen Antworten wäre? Könnte eine andere Bezeichnung des Stocks eine Möglichkeit sein? Welche anderen Bezeichnungen sind möglich? Er findet mehrere: ein länglicher Gegenstand, ein Stück Holz. Schließlich kommt ihm auch der Gedanke, einfach eine Bezeichnung zu wählen, die nichts mit dem Stock zu tun hat: Ein Klavier, ein Klavier, es ist ein Klavier! Diese Möglichkeit verwirft er aber sehr schnell. Er möchte nicht den Eindruck bei seinem Meister aufkommen lassen, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Nein, das will er wirklich nicht. Er erinnert sich, dass er vor einiger Zeit einen Anfängerkurs über buddhistische Meditationstechniken besucht hat und dort mit dem Mantra des Om vertraut gemacht wurde. [86] Wenn er also seinem Meister »Om« als Antwort anbieten würde, dann könnte er – so seine ängstliche Überlegung – sein Gesicht wahren, ja vielleicht sogar auf ein Fleißkärtchen als Meditationsmusterschüler hoffen. Er hat Angst zu versagen und seinen Meister zu enttäuschen. Er zögert aber, diese Antwort zu geben. Stattdessen bemerkt er, dass das nicht alles ist, was er an Gefühlen und Vorstellungen seinem Meister entgegenbringt. Zwar bewundert er ihn, aber er hegt auch schüchterne Gefühle des Ärgers über den Meister, der ihn schon oft mit Aufgaben bestraft und gequält hat. Erst kürzlich musste er einen ganzen Monat lang den Innenhof des Zen-Klosters fegen. Angeblich eine besonders intensive Form von Meditation. Warum sollte er es ihm eigentlich nicht mal zurückzahlen? Er könnte dem Meister den Stock abnehmen und statt vom Meister verprügelt zu werden, den Meister verprügeln. An körperlicher, wenn auch vielleicht nicht an spiritueller Kraft könnte er es ohne weiteres mit dem Meister aufnehmen. Kühner Gedanke! Aber wieder stellt sich ängstliches Zaudern ein, obwohl ihm die Vorstellung des Meisterverprügelns nicht aus dem Kopf geht, wie ihm überhaupt der Meister und seine Fragen nicht aus dem Kopf gehen. Warum eigentlich, so fragt er sich nun – könnte er nicht auch einfach die geforderten Antworten verweigern? Dazu müsste er nur dem Gedanken nachgeben, der sich gerade in ihm breit zu machen versucht: Meister, du gehst mir irgendwie auch ziemlich auf den Geist mit deinen blöden Erleuchtungsfragen! Wenn er dies aber tun würde, so zögert er ängstlich, dann gefährdet er sicher die Beziehung zum Meister. Und was hatte er nicht alles in Kauf genommen und dafür getan, um vom Meister unten den vielen Bewerbern erkannt und als Schüler angenommen zu werden? Vielleicht – so fragt er sich ängstlich – schickt mich der Meister dann sogar weg? Und was soll dann aus mir werden, aus mir, einem verstoßenen Schüler? Was wäre aber, wenn nicht der Meister ihn verstoßen würde, sondern umgekehrt er den Meister verstieße und ihn verließe? Glänzender Gedanke! Er klopft sich – selbstverständlich nur in Gedanken – auf die eigene Schulter. Aber, so zögert er ängstlich, was mache ich dann? Was soll dann aus mir werden? Ich kann doch nichts Vernünftiges. Endlich reift seine Entscheidung, und er weiß, wie er die Frage des Meisters beantworten will. Er gibt sich die Antwort selbst, nicht dem Meister, und schreitet zur Tat. Die
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