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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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mindestens ein Alleinstellungsmerkmal aufweist, etwas, was die Mitbewerber nicht zu bieten haben. Ständiger Begleiter der Menschen im freien Markt ist die Angst, aus dem Markt zu fliegen. Diese Angst schwächt die eigene Position. Also muss sie bekämpft werden. Das wiederum schwächt noch mehr. Schließlich entscheidet man sich doch wieder dafür, voller Zuversicht und Hoffnung mit dem richtigen Outfit und der am Erfolg orientierten Kompetenz ans Werk zu gehen, um bereit und fit für den Erfolg zu sein und mental richtig eingestimmt und aufgestellt, unbeirrt mitzumischen und aufzusteigen. Bis sich dann die marktgängige nächste Eskalation anbietet: Das Burn-out-Syndrom. Es beweist geradezu, dass man ein alter Angst-Kämpfer ist, schließlich muss ja mal gebrannt haben, was ausbrennt. Also ist das Burn-out-Syndrom eine Art von angesehenem Kampforden. Nur Loser und Weicheier sind des Burn-outs unverdächtig. Bekam man im Zweiten Weltkrieg das Ritterkreuz umgehängt, bekommt man heute im Kampf gegen die Angst das Burn-out-Syndrom angehängt. Zusätzliche Verwundungen durch Tinnitus und/oder Herzrhythmusstörungen entsprechen dann der Aufwertung des Ritterkreuzes mit Eichenlaub und Schwertern.

Ich kann/muss immer noch mehr erreichen!
    Wer rastet, der rostet und hat natürlich Angst, abgehängt zu werden und den Anschluss zu verpassen. Die Möglichkeiten weiterer Perfektionierung, weiterer Stufen des Erfolges, der Karriere liegen immer noch vor einem. Man hat den sogenannten Biss zu haben. Mit dieser Überzeugung ist man weder allein, noch außerhalb des Zeitgeistes. Seit der Aufklärung und seit dem Eintritt in das technisch-wissenschaftliche Zeitalter ist der Fortschritt immer vor einem, und die Unzulänglichkeit des schon Erreichten ist die Triebfeder für weiteren Fortschritt. Das kann in einer individuellen Biographie ein guter Start sein, über weite Strecken auch vorwärtsbringen. Irgendwann stellen sich aber Bedenken ein, ob man seinem Grundsatz auf Dauer (wie lange ist die Dauer?) treu bleiben kann. Jetzt ist der Zeitpunkt der Ängstlichkeit gekommen: gute Gelegenheit zu zaudern und zu überdenken, was aus der eigenen Überzeugung werden soll. Ist diese Angst jedoch ein Skandal, beginnt der Kampf.

Ich darf keine Fehler machen!
    Die angebliche Wunderwaffe gegen die Angst? Nein – eine der wirksamsten Handlungsanleitungen, um schlechte Stimmung herzustellen! Das schlechte Ansehen des Fehlers, das ängstliche Bemühen, Fehler zu vermeiden oder zumindest nicht dabei erwischt zu werden, wenn man welche macht, lässt die Angst zu einem ständigen Begleiter werden.
    Auf die hochproblematische Nullfehler-Kultur etwas genauer einzugehen scheint mir kein Fehler zu sein. Damit kommen wir zum nächsten Kapitel.

5
    Lob des Irrtums
    Aus der perfekten Welt unserer Kinder: Leon wird von seiner Mutter vom Kindergarten abgeholt. Stolz zeigt er seine Urkunde. Er hat sie zum Abschluss des Verkehrstrainings erhalten, durchgeführt mit Bobbycar, Marke Mercedes, gestiftet vom Autohaus um die Ecke: null Fehler! Mutter strahlt! Toll hast du das gemacht! Was habe ich doch für einen klugen Jungen!

    Aus der perfekten Welt eines High-Tech-Unternehmens: Herr Furchtner, 31 Jahre, 1er Abitur, Mathematik- und Informatikstudium, promoviert in Mathematik (summa cum laude), Forschungssemester am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston/USA, inzwischen Leiter eines Entwicklungsteams in einem großen internationalen Software-Unternehmen. Herr Furchtner kommt verzweifelt zu seiner ersten Coachingsitzung, zu der ihm von der Personalabteilung geraten wurde und die von seinem Unternehmen bezahlt wird. Er war in einem Abteilungsmeeting weinend zusammengebrochen. Seinem Coach berichtet er, er habe sich auf eine neue Stelle beworben, die für ihn die nächste Sprosse seiner Karriereleiter bedeutet. Ein anderer Bewerber ist ihm vorgezogen worden.

    Aus der perfekten Welt unseres Bildungswesens: Herr Hofer, 66 Jahre, pensionierter Gymnasiallehrer, wegen einer depressiven Symptomatik in hausärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung. Er erzählt seinem Psychotherapeuten einen Traum, den er immer wieder, eigentlich so lange er denken könne, träumt. Ein Albtraum: »Ich träume davon, im Abitur zu stehen und die Prüfung nicht zu schaffen. Ich mache einen Fehler nach dem anderen. Das Seltsame: Ich weiß, obwohl ich den Traum schon so viele Male geträumt habe, immer noch nicht, welche Fehler ich mache, die mich das Abitur nicht

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