Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Antwort, die er sich selbst gibt: Jetzt ist endlich Schluss, Meister, ich habe diese ewigen Aufgaben, die nicht zu lösen sind, mit denen man sich aber stunden-, tage-, und wochenlang herumquält, endgültig satt. Mach was du willst, aber nicht mehr mit mir! Ich gehe, ohne deine Frage zu beantworten! Ich suche mir selbst ein paar Schüler, die ich dann als Meister mit solchen Fragen, die ich ja zur Genüge kennengelernt habe, quälen kann, und wo ich gelassen und hochangesehen schon am frühen Morgen vor mich hindösen kann. Gedacht, getan, und in guter Stimmung ist er verschwunden. Und der Meister hat einen Schüler weniger.
Der Schüler hat, unterstützt durch seine Angst, sein Zaudern und sein Zögern eine anspruchsvolle, kreative Leistung vollbracht. Er ist durch die Angst hindurch gegangen und dabei ein anderer geworden. Er ist nicht mehr derselbe. Er hat sich selbst vom Schüler in einen Meister verwandelt. Er ist weitergekommen: Von der Trennungsangst, der Angst sich von seiner Schülerrolle und seinem Meister zu trennen, bis hin zur Angstlust. Er geht das Wagnis ein, ein Meister für andere, noch unbekannte Schüler zu werden.
Die Geschichte ist allerdings noch nicht zu Ende: Der Meister sieht seinen Schüler von dannen ziehen, ohne eine Antwort auf seine Frage bekommen zu haben. Gutgelaunt lehnt er sich zurück und kann sich wieder dem morgendlichen Dösen widmen. Zufrieden, weil er es wieder einmal geschafft hat, einen Schüler zum Meister werden zu lassen.
Angst lässt uns mutig sein
Was bedeutet Mut? Ein Irrglaube ist die Vorstellung, Furchtlosigkeit oder die Abwesenheit von Angst sei Mut. Im Gegenteil: Mut ist die Fähigkeit zu denken, zu sprechen und zu handeln, trotz unserer Angst und Furcht. Furchtlosigkeit ist also nicht Mut, sondern Mut ist erforderlich, um zu handeln, auch und gerade dann, wenn man Angst hat. Also ermöglicht erst die Angst den Mut. Ohne Angst kein Mut. Und umgekehrt ist Feigheit die Vermeidung oder Bekämpfung der Angst.
Wenn man sich die Mut erfordernden Situationen in der eigenen Lebensgeschichte genauer anschaut, ist es dann nicht meist so, dass nicht die Angst uns davon abgehalten hat, die richtigen und wahrhaftigen Dinge im alltäglichen Leben zu tun? War es nicht in den meisten Fällen die Vermeidung der Angst? Es ist wohl nicht die Erfahrung und das Erleben der Angst und Scham, die furchtbare Dinge hervorbringt, sowohl im Kleinen wie im Großen. Mir scheint, es ist eher so, dass fürchterliche Dinge passieren können, wenn Menschen verzweifelt und unvernünftig versuchen, ihre Angst zu vermeiden, sie loszuwerden oder in den Griff zu bekommen.
Nicht die Angst erzeugt schlechte oder depressive Stimmung, sondern ihre Bekämpfung
Nach so viel Lob der Angst muss sich Widerspruch erheben. Alles schön und gut mit der Angst, aber die Angst kann uns doch auch quälen, uns unserer Freiheit berauben und alles andere als gute Stimmung erzeugen!
Zugegeben. Das ist in der Tat so. Es macht einen Unterschied, ob wir Angst haben oder die Angst uns im Griff hat, wir von Angst überwältigt sind. Wir alle sind so etwas wie Seiltänzer, die darum ringen, die richtige Balance zu finden. Die Balance zwischen unserem Wunsch nach Sicherheit, Komfort, Kontrolle, Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit einerseits und unserem Wunsch nach Risiko, Neuem, Unvorhergesehenem, Überraschungen und Veränderung auf der anderen Seite. Bei der Suche nach der geeigneten Balance spielt die Angst eine wichtige Rolle. Es scheint so zu sein, dass das Extrem absoluter Angstfreiheit auf der einen Seite ebenso problematisch ist wie das Extrem maximaler Angst auf der anderen Seite.
Wie schaffen wir es aber, von der Angst überwältigt zu werden? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Die Versuche der Herstellung des Extrems absoluter Angstfreiheit erzeugt das Extrem maximaler Angst.
Stellen wir uns unsere Lebenswelt als eine Landschaft vor: [87] Angst ist wie das Wasser eines Flusses, der sich durch diese Landschaft zieht und dabei die Landschaft verändert. Man kann darüber nachdenken, was man mit dem Wasser des Flusses machen will: das Land bewässern, Pflanzen und Bäume wachsen lassen, Landwirtschaft betreiben, ein Wasserschloss bauen, Wasserspiele veranstalten … Man kann aber auch den Fluss der Angst durch einen Staudamm aufstauen. Wirkungen für die Landschaft und auch die darin betriebene Landwirtschaft bleiben nicht aus. Wird das Wasser des Flusses so sehr gestaut, dass der Staudamm bricht, wird die
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