Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Mensch trennt sich von etwas, das ihm vertraut war und mit dem er bisher verbunden war. Die Angstlust ist ein »Zwischengefühl«. Es wird zwischen dem Aufgeben von Sicherheit und dem Wiedererlangen von Sicherheit empfunden. Gleichzeitig entsteht dabei eine eigenartige psychische Distanz zum Geschehen, dessen Teilnehmer man aber weiterhin bleibt. Das vermittelt uns den Eindruck, dass es sich um ein Spiel handelt. Das etwa einjährige Kind lernt nicht nur die Angst, nicht nur die Lust an der Angst, es lernt, dass es ein Wesen ist, das wählt. Die Angstlust erzeugt das Bewusstsein, sich einer als real empfundenen Gefahr wissentlich aussetzen und die dabei entstehende Angst wiederum willentlich bewältigen zu können. Man kann den Blick zurückwenden, um sich des weiterhin vorhandenen Bekannten zu versichern, oder zurücklaufen/zurückkrabbeln oder den Blick nach vorwärts richten auf das Unbekannte und es sich zu eigen machen.
Unsere Angst macht uns Verbesserungsvorschläge und lässt uns vorausdenken
Angst erlaubt uns innezuhalten und zu zögern. Sie gibt uns die Zeit, unsere Wahlmöglichkeiten zu überdenken. Sie lässt uns vorausdenken, in die Zukunft, die wir durch unsere Entscheidungen beeinflussen. Dadurch bringt sie Bewahrenswertes aus der Vergangenheit in den Blick und die Widersprüchlichkeit des zukünftig Neuen zur Anschauung. Neues kann erwünscht und herbeigesehnt werden und gleichzeitig verunsichernd, riskant und gefürchtet sein. Die Ungewissheit des Neuen macht Veränderung zu einem angsterzeugenden Geschäft. Diese Widersprüchlichkeit zu übergehen und schnell weiterzumachen kann zu dummen Entscheidungen führen. Angst macht uns auf unsere Ambivalenz aufmerksam und räumt uns die notwendige Zeit ein, um nachzudenken und vielleicht sogar klug zu handeln: Unsere Angst bewacht unseren Fürwitz (Friedrich Schiller).
Angst ist ein Verbesserungsvorschlag. Bevor etwas Wirklichkeit wird, legt sie das Veto ein: »Moment mal!« Sie lässt uns fragen: Was will ich? Was befürchte ich? Angst kann ein Warnsignal sein, um damit aufzuhören, etwas Dummes zu tun. Sie kann uns dazu bringen, etwas zu tun oder auch zu lassen. Einen Job aufzugeben, der uns langsam umbringt, oder ihn zumindest anders auszufüllen. Angst kann uns dazu bringen, eine wichtige Veränderung vorzunehmen, sie kann ein guter Startschuss und Anstoß sein. Sie kann uns aber auch davon abhalten, Veränderungen zu vollziehen, weil uns Bewahrenswertes am Bestehenden wichtiger ist.
Beides, der berechtigte Wunsch nach Veränderung und die berechtigte Angst vor Veränderung, ist für unser Wohlergehen und die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu anderen, aber auch zu uns selbst, von größter Wichtigkeit. Psychologisch spricht man in solchen Fällen von Ambivalenz. Innere Konflikte sind mit dem Leben nicht nur vereinbar, sondern lebensnotwendig. Es ist nämlich nicht nur die Möglichkeit der Veränderung, sondern auch die Fähigkeit, Veränderungen zu widerstehen, die unser Gefühl für Identität, Kontinuität in der Zeit und unsere Verbundenheit mit uns selbst und anderen ausmachen.
Ich habe Angst, also bin ich
Menschen können Mögliches wirklich werden lassen. Sie können wählen. Von einer Entscheidung lässt sich nur sinnvoll sprechen, wenn es mindestens zwei Optionen gibt, zwischen denen man wählen kann. Bei den meisten persönlichen Entscheidungen fehlt aber gleichzeitig das Kriterium dafür, welches die richtige Entscheidung wäre. Also etwa die richtige Antwort auf die Frage: Wie soll man leben? Bei dieser Art von Entscheidungen kann sich in der Zukunft durchaus herausstellen, dass die Entscheidung falsch war: Die Entscheidung war riskant. Die Zukunft hat nun aber leider das entscheidende Merkmal, dass sie unbekannt ist. Deshalb stellt sich an diesem Punkt Angst ein: Vielleicht verschieben wir die Entscheidung, vielleicht kommen neue Optionen in den Blick.
Auf jeden Fall aber kann nun ein Nachdenken über die eigenen Entscheidungskriterien einsetzen. Dabei kommt man sich selbst auf die Schliche und wird mit sich selbst bekannt. Angst ermöglicht die Selbstbefragung. Ohne sie nutzen wir die Möglichkeit der Selbsterkundung nicht. Ohne nachzudenken eilen wir von einer Entscheidung zur anderen.
Angst stellt das menschliche Leben in einen Zusammenhang von Freiheit, Verantwortung, Schuld und Reue. Sie macht den Einzelnen auf sich selbst aufmerksam als denjenigen, der wählt und sich damit Freiheit, Schuld, Verantwortung und Reue zumuten
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