Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Antwortest du, es ist ein Stock, verprügle ich dich mit dem Stock. Antwortest du, es ist kein Stock, verprügle ich dich mit dem Stock. Hier also, wie versprochen, deine Aufgabe:
Sage mir, was ich in der Hand habe!
Auch für Sie, liebe Leser, wenn Sie an Erleuchtung interessiert sind, eine Gelegenheit weiterzukommen. Wenn Sie jetzt ein wenig Angst haben, Sie könnten den Weg nicht finden, die richtige Antwort nicht geben, ist das gut und nicht schlecht. Wir werden darauf zurückkommen. Wenn Sie wollen, können Sie sich geraume Zeit mit Ihren Erleuchtungsversuchen beschäftigen, ich warte solange auf Sie.
Jetzt weiß ich nicht, ob Sie direkt weitergelesen haben, weil Sie nicht an Erleuchtung interessiert sind, oder weitergelesen haben, weil Ihnen solche Denkaufgaben mit pädagogischen Absichten in einem Sachbuch erheblich auf den Geist gehen, oder ob Sie weitergelesen haben, weil sie schon erleuchtet sind und sich der weiteren Lektüre dieses Buches widmen wollen.
Wie auch immer – ich fahre einfach fort. Was ist eigentlich Kreativität?
Wir würden uns wahrscheinlich schnell einig werden, dass wir das als kreativ bezeichnen, was etwas Neues darstellt, etwas Unerwartetes. Das Gegenteil davon wäre die Wiederholung des Alten und des Bekannten, wären die bekannten üblichen Antworten.
Wie aber kommt Neues in die Welt?
Wir sind einer Situation ausgesetzt oder setzen uns einer Situation aus, in der wir nicht ausweichen können und mit den alten Antworten nicht durchkommen. Diese Situationen sind Konflikte oder Widersprüche, die wir mit Hilfe unserer bisherigen Erfahrungen nicht auflösen können. Unsere Geschichte beschreibt eine solche Situation: Wenn du das eine tust, dann hat das negative Konsequenzen, aber wenn du das andere tust, hat das ebenfalls negative Konsequenzen. Es kann also nicht entschieden werden, ob Tun oder Unterlassen das Richtige ist. [84]
Die meisten Fragen, die für uns bedeutsam, ja lebenswichtig sind, sind unentscheidbare Fragen, und es gibt darauf keine einzig richtige Antwort: Wie sollen wir leben? Soll man überhaupt leben? [85] Wir sind mit der seltsamen Situation konfrontiert, dass wir nur die unentscheidbaren Fragen beantworten können, ja müssen. Die entscheidbaren Fragen können wir nicht beantworten, weil sie ja schon beantwortet sind. Entscheidbare Fragen sind etwa Fragen wie: Wie viel ist 1 und 1? Diese Frage ist ja schon beantwortet, bevor sie gestellt wurde. Man braucht nur nachzurechnen. Besonders kreativ ist diese Antwort allerdings nicht, wie die meisten Antworten auf entscheidbare bzw. bereits entschiedene Fragen.
In einer solchen Situation, in der wir vor unentscheidbare Fragen gestellt sind oder wir uns unentscheidbare Fragen stellen, wo wir unauflösbaren Konflikten und Widersprüchen ausgesetzt sind, ist alles unsicher, uneindeutig, bedrohlich. Entscheidungen sind dann hochriskant, und wir haben keinen sicheren Boden mehr unter den Füßen. Die alten Antworten funktionieren nicht mehr, neue stehen (wenn überhaupt jemals) noch nicht zur Verfügung. Wir haben Angst. Wir zaudern und zögern.
Zaudern und Zögern muss jedoch keineswegs passiv, sondern kann aktives Suchen und Befragen sein. Die Antwort wird nicht gegeben, die Handlung nicht vollzogen, sondern dem zögerlichen Prozess des Werdens und Entstehens unterworfen. Das Zaudern durchbricht die bekannten Abläufe und bewirkt ein Heraustreten aus Zusammenhängen. Die fugenlose Verknüpfung von Fragen, Herausforderungen, Antworten, Entscheidungen und Handlungen ist unterbrochen. Im Zögern und Zaudern entsteht ein Zwischenraum, ein Schwebezustand, indem etwas angehalten wird, was nicht so weitergeht wie bisher, aber eben auch noch nicht anders weitergeht – noch nicht!
Der Weg durch die Angst hindurch, nicht der Weg von der Angst weg, ist der Weg der Kreativität. Der Weg von der Angst weg ist der Weg der Dummheit und der Weg der miesen Stimmungen. Auf dem Weg durch die Angst lässt sich etwas suchen und, wenn man Glück hat, auch finden, was das Neue sein kann: das Dritte. Etwas, was weder das eine noch das andere ist. Angst ist nicht nur, wie wir schon sahen, die Begleitmusik und die Triebfeder von Entwicklungen, sondern auch von Kreativität. Gemeinsam ist beidem, dass etwas Neues in die Welt kommt, in die persönliche oder in die soziale Welt. Angst ermöglicht Veränderung von Selbstbild und Selbstverständnis ebenso wie von Weltbildern und Weltverständnis.
Kreativität ist kaum denkbar, ohne
Weitere Kostenlose Bücher