Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
muss.
Immer beliebter wird das Gerede von der Alternativlosigkeit: Es bleibt uns keine andere Wahl – ein besonders bei Politikern gerne vollführter rhetorischer Taschenspielertrick. Gibt er doch vor, dass es sich bei einer Entscheidung gar nicht um eine Entscheidung handelt, weil Alternativlosigkeit und Entscheidung sich ausschließen. Beliebt auch, weil Verantwortung nicht übernommen werden muss. Man kann ohne Schuld bleiben, braucht nichts zu bereuen und kann risikolos in die Zukunft hineinleben/regieren. Psychiatrisch gesprochen ist damit das Attest der Schuldunfähigkeit ausgestellt, in Form einer Selbst-Attestierung eigener Schuldunfähigkeit. Angst ist nun völlig fehl am Platz und braucht nicht aufzukommen. Und die Ängstlichen können sogar noch beruhig werden, schaut her: Alternativlos! Eine rhetorische Angstbekämpfungsmaßnahme oder Angsttherapie, die einen das Fürchten lehren kann. Ein gewisses Risiko bleibt allerdings: In psychiatrischen Gutachten wird das Attest der Schuldunfähigkeit manchmal zusammen mit dem Attest der Geschäfts- und Unzurechnungsfähigkeit ausgestellt.
Angst ist ein Erwartungsaffekt, auch wenn wir noch nicht genau wissen, was uns erwartet. Angst ermöglicht uns aber, uns mit unseren Befürchtungen auseinanderzusetzen.
Auch die Hoffnung ist ein Erwartungsaffekt. Sie lässt uns aber über unsere Befürchtungen hinwegdenken und hat ganz andere Effekte. Die Hoffnung lenkt unseren Blick von unseren Befürchtungen weg, verführt uns, unsere Bedenken zu übersehen und lenkt uns von uns selbst ab. Sie macht keine Verbesserungsvorschläge. Die Hoffnung bedient sich dafür, wie wir gesehen haben, oftmals der Lüge, der Schönfärberei und der Dummheit. Das tut sie, indem sie die Angst bekämpft und alle ihr innewohnenden Möglichkeiten unmöglich macht. Sie ist eine Angstbekämpfungsmaßnahme mit negativen Nebenwirkungen. Die Hoffnung ersäuft die Angst! [82]
Angst macht kreativ
Angstfreiheit lässt sich nicht erzwingen, selbst mit dem besten Willen nicht – ebenso wenig wie Kreativität, auch wenn es Seminare dafür gibt. Früher waren es nur die Ausnahmegenies, die Heroen des Geistes, denen der göttliche Funke der Kreativität zuflog. Heute wollen und sollen alle kreativ sein. Kreativitätsförderung und -forderung sind Versuche zur Demokratisierung des Genies: Kreativität ist gut, man kann nie genug davon haben, als Einzelner wie als Gesellschaft; jeder besitzt die Fähigkeit der Kreativität, und jeder kann und soll kreativ sein! Kreativität für alle und von allen ist das Motto, und es wird auch vor Drohungen nicht zurückgeschreckt: »Seien Sie besonders … oder Sie werden ausgesondert!« [83]
Aber die Forderung »Sei kreativ!« verhindert, wozu sie auffordert. Kreativität lässt sich eben nicht erzwingen. Die modernen Methoden, Kreativität hervorzuzaubern, sind aber nicht in erster Linie Disziplinarzwänge, sondern eher Aufforderungen zu Spaß, Freude und guter Laune. Die meisten Firmen setzen ihre Angestellten schon lange nicht mehr mit Aufsehern unter Druck, sondern setzen professionelle Spaßmacher ein. Mitarbeiter sollen zum Lachen gebracht werden, damit sie kreativ sein wollen.
Dabei wäre wahrscheinlich mehr zu erreichen, wenn man Kreativitätspausen erlauben würde. Hält nicht gerade der pausenlose Zwang zur Kreativität davon ab, kreativ zu sein?
Auf der anderen Seite kann – richtig als Signal verstanden und genutzt – Angst eine Quelle für Veränderung, für eine kreative Normabweichung werden.
Das erinnert mich an eine Geschichte, deren Ursprung ich vergessen habe:
Der dösende Zen-Meister, der Stock, die Angst und der Abschied
Ein alter Zen-Meister sitzt vor seiner Hütte und döst in der Morgensonne. Seine Schüler nehmen allerdings an, dass er in einer für sie unerreichbaren Tiefenmeditation ist. Gut für den Meister, dass es so schwer ist, zwischen Dösen und Meditieren sicher zu unterscheiden. Ein besonders eifriger Schüler nähert sich seinem Meister. Der kommt wieder zu sich. Sein Schüler bittet ihn um eine Aufgabe. Er will auf dem Wege seiner Erleuchtung einen Schritt weiterkommen. Der Meister – innerlich etwas verärgert, wieder einmal gestört worden zu sein, äußerlich die Gelassenheit selbst – überlegt einen kurzen Moment und stellt seinem Musterschüler eine Aufgabe, etwa so:
Mein lieber Schüler, du siehst, ich habe hier einen Stock in der Hand. Ich werde dich gleich fragen, was ich in der Hand habe.
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