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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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Applaus bedacht wird.
    Aber es zählt nicht nur der Applaus für Fehlerlosigkeit, den wir von anderen zu erhalten hoffen. Das protestantisch-calvinistische Erbe, das sich inzwischen ökumenisch auch in anderen Bekenntnissen breitgemacht hat, bestimmt, dass nur unsere guten Werke zählen. Durch gute Werke – fehlerfreie, untadlige Taten – haben wir die Chance, positiv auf uns aufmerksam zu machen und der Gnade des Herrn und anderer teilhaftig zu werden. Die Null-Fehler-Toleranz wird uns dann bei der Endabrechnung am Jüngsten Tage vielleicht doch erlösen können. Bemüht, keine Fehler zu machen, fürchten wir, Fehler zu machen. Wir müssen uns daher ständig beobachten, ob wir auch wirklich alles richtig gemacht haben, zumindest nichts falsch. Angestrengt und angespannt wird unsere Stimmung immer trüber.
    Auch als gottlose Aufgeklärte sind wir tiefgläubig. Wir glauben an den Fortschritt. Wir glauben, dass alles immer besser wird. Deshalb führen wir einen umfangreichen Katalog zu vermeidender Fehler und Irrtümer stets mit uns. Diesen Null-Fehler-Katechismus haben wir ständig im Auge zu behalten. Auch das trägt nicht zu guter Stimmung bei. Im Gegenteil.

Was ist eigentlich ein Fehler?
    Ein Fehler hat Voraussetzungen. Zum Beispiel, dass es ein Gegenteil gibt: den Erfolg, das Gelingen, das Richtige. Nur dort, wo etwas schiefgehen kann, kann auch etwas gelingen. Wenn man Fehler machen kann, muss es auch die Möglichkeit geben, keine Fehler zu machen. Fehler kann es also nur dort geben, wo es die Freiheit der Wahl gibt, etwas zu tun oder zu lassen. Menschen haben diese Freiheit. Tiere und Maschinen können keine Fehler machen: Tiere, weil der Instinkt sie von der Qual der Wahl entlastet; Maschinen, weil sie nur das tun können, wozu sie vorgesehen sind.
    Eine weitere Voraussetzung: Erst dadurch, dass jemand zuschaut, beobachtet und bewertet, wird etwas zum Fehler. Ohne diese Voraussetzung ist das, was geschieht, lediglich eine Tatsache. Daraus ergeben sich weitreichende Möglichkeiten der Fehlermeidung durch Wegsehen: Null-Fehler-Toleranz durch Nichtbeachtung!
    Fehler sind also nicht ohne. Ohne Menschen kann es keine Fehler geben. Fehler brauchen Menschen, aber: Menschen brauchen auch Fehler!

Lob des Fehlers und des Irrtums
    Fehler sind die besten Informanten, die wir haben. Da wir keinen direkten Zugang zur sogenannten Wirklichkeit haben, sondern nur unsere Annahmen über die Wirklichkeit, unsere Vorurteile, Glaubenssätze und Überzeugungen, informieren uns unsere Fehler über die Wirklichkeit da draußen, außerhalb von uns selbst. Fehler informieren uns aber auch über uns selbst, über unsere Wirklichkeit da drinnen. Unsere Fehler fordern uns auf, über uns selbst nachzudenken. Warum sollten wir über unser Verhalten nachdenken, wenn wir nicht irren? Es läuft doch! Fehler fordern uns auf, anders über die Wirklichkeit nachzudenken, anders mit ihr umzugehen, anders zu handeln.
    Wenn wir von Fehlern sprechen, können wir leichter der Illusion nachhängen, wir hätten nichts damit zu tun. Fehler passieren, Fehler liegen in der Natur der Sache. Sprechen wir dagegen von Irrtum, dann sind wir mit von der Partie. Nicht die Sache, sondern man selbst irrt sich. Irrtümer müssen persönlich genommen werden – Fehler nicht.
    Was machen Fehler oder Irrtümer mit uns? Und was machen wir mit unseren Fehlern oder Irrtümern?

Ich irre mich, also bin ich
    Sich zu irren und Fehler zu machen, ist nicht eine unerwünschte und deshalb auszumerzende Nebenwirkung unseres Wirkens, sondern ein wesentliches Element dessen, was wir sind: Es macht uns zu Menschen. Irrtum und Fehler aus der Welt zu schaffen bedeutet, den Menschen aus der Welt zu schaffen. Sich irren kann man nur dort, wo die Freiheit besteht, Unterschiedliches zu denken und zu tun. Den Irrtum abschaffen zu wollen ist also nichts anderes als die Abschaffung des Menschen und seiner Freiheit.

Irrtümer bringen uns weiter
    Irren ist menschlich. Dieser Satz ist so bekannt, dass auch viele Menschen, die keinerlei Lateinkenntnisse haben, ihn lateinisch auszusprechen wissen: Errare humanum est! Errare hat seine Wurzel in dem lateinischen Verb ire : gehen, sich bewegen. Im deutschen »Irrtum« drückt sich diese Quelle sehr direkt aus.
    Wir bewegen uns in einer uns bewegenden Weise. Wir sind nicht zur Bewegungsstarre und zum Stillstand verurteilt, sondern irren vorwärts (Robert Musil).
    Irrtümer spielen für die Entwicklung von Kindern die gleiche Rolle, wie sie es

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