Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Familienroutinen (Festen …). Andere übernehmen die Rolle des Traumatisierten nach innen und/oder nach außen. Es tun sich Gedächtnislücken auf. Bei anderen und einem selbst nehmen Gleichgültigkeit und Desinteresse zu bis hin zur vollständigen Leugnung der traumatischen Erfahrung und ihrer Auswirkungen auf das eigene Leben: Das ist mir nicht passiert! Wenn es mir passiert wäre und ich spürte, was mit mir passiert ist, würde ich verrückt!
Die posttraumatische Wachsamkeit
Eine dritte Möglichkeit der sogenannten posttraumatischen Belastungsreaktionen ist eine übererregte Wachsamkeit. Alle möglichen Reize, Geräusche und selbst kleinste Berührungen führen zu extremem Erschrecken. Die Wachsamkeit gegenüber der erneuten Gefährdung durch traumatisierende Erfahrungen ist motiviert von der Vorstellung, etwas – und zwar rechtzeitig und effektiv – gegen die Wiederholung des Traumas tun und Fehler vermeiden zu können. Dieses Denken ergreift auch nahe Angehörige: Sie denken, das Problem des Traumatisierten verursacht zu haben, aber es auch kontrollieren und heilen zu können, damit wieder alles so ist wie vorher. Angehörige entwickeln dabei Vorstellungen und Hoffnungen, die Vorstellung der Kontrolle, die Hoffnung der Heilung, beispielsweise durch Liebe. Diese Vorstellungen und Hoffnungen werden meist enttäuscht, denn sie widersprechen den gemachten Erfahrungen. Die enttäuschenden Erfahrungen mit dem traumatisierten Familienmitglied traumatisieren nun die anderen Familienmitglieder. Die traumatisierende Infektion hat inzwischen auch die höheren Weihen einer psychiatrischen Diagnose erhalten: Mitgefühlserschöpfungssyndrom (Compassion Fatigue Syndrom, CFS) [120] .
Wie erklären sich posttraumatische Belastungsstörungen?
Wie aber kommt es zu diesen posttraumatischen Belastungsstörungen? Gibt es Verhaltensweisen, die sie begünstigen oder geradezu herbeirufen? Was könnte eine Gebrauchsanleitung für die Herstellung posttraumatischer Belastungsstörungen sein?
Die erste und wohl wichtigste Maßnahme ist die, daran festzuhalten, dass alles wieder so sein kann wie vorher. Die alten Vorstellungen werden beibehalten, als sei nichts geschehen. Die traumatische Erfahrung wird ignoriert, die Erinnerung daran vermieden. Das kann sogar eine gewisse Zeit funktionieren – bis zur nächsten Erfahrung, die traumatisiert. Damit handelt man sich aber auch die ersten Belastungsprobleme ein: Aktives Vergessen hält das, was man zu vergessen versucht, maximal in der Erinnerung. Man versucht, einen nicht unwesentlichen Teil seiner selbst, nämlich die traumatische Erfahrung, zu ignorieren – um den Preis des Verlustes eben dieses Selbstanteils.
Da das aber letztlich und langfristig nicht möglich ist, wird man ständig von der Vergangenheit eingeholt und kommt nicht in die Gegenwart, geschweige denn in die Zukunft: Je massiver die willkürliche Vermeidung von Erinnerung ist, umso zwingender ist der unwillkürliche Erinnerungsdruck. Wird die Vorstellung aufrechterhalten, dass ich weiterhin die Macht und Kontrolle habe, zukünftige traumatische Erfahrungen vermeiden und in den Griff bekommen zu können, hat die dazu notwendige übererregte und übersensible Wachsamkeit eine Belastung zur Folge, die für einen selbst und meist auch für andere fast unerträglich wird.
Durchaus problematisch können daher Vorschläge sein, Traumatisierte dazu einzuladen und zu ermutigen, sich als jemanden wahrzunehmen, der Gestaltungskraft besitzt und »es schafft«. Was aber, wenn genau diese Vorstellung traumatisiert worden ist? Dann muss doch wohl genau diese Vorstellung als nicht mehr haltbar in Frage gestellt werden. Ebenso problematisch ist die Vorstellung, Traumatisierte dürften nicht mehr mit ihrem Trauma konfrontiert werden. Zweifelhaft begründet wird diese Vorstellung damit, dass es sonst zu einer Retraumatisierung komme. Hier geht wohl einiges durcheinander: Retraumatisierung meint die Wiederholung des Traumas. Aber gerade das findet ja statt, wenn versucht wird, sich der traumatischen Erfahrung zu entledigen.
Die Menschheitsgeschichte – eine Traumageschichte
Die Geschichte von Menschen, aber auch die Menschheitsgeschichte an sich lässt sich als eine Folge von Traumata beschreiben: eine Folge von Naturkatastrophen, Kriegen, Vernichtung, Unterdrückung, Unfreiheit, Vertreibung und Epidemien. Trotzdem hat die Menschheit überlebt, das heißt, die Menschheitsgeschichte ist auch eine von Wiederaufbau,
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