Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

machen, ohne sie in Gewissheiten verwandeln zu können. Letztlich bezeichnen Wahrscheinlichkeiten nichts anderes als den Grad des Vertrauens eines bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund einer bestimmten Informationsmenge in das Eintreten eines Ereignisses. [122]  
    »Risiko« ist zu einem Schlüsselwort der Moderne geworden. Es wird vorausgesetzt, dass wir es in der Hand haben, Risiken abzuschätzen und zu minimieren. Dahinter steht ein Glaubenssystem, das den verantwortlichen Menschen in den Vordergrund stellt. Nichts spricht dafür, dass das Leben heute für die Menschen katastrophaler ist als in früheren Zeiten, aber die Risikoempfindlichkeit bzw. der Sicherheitsanspruch haben stark zugenommen – und ebenso die Verwundbarkeit der Gesellschaft und die Traumatisierbarkeit des Einzelnen. Die Vorhersehbarkeit von Zukunft hat wegen des Anwachsens von Innovationen abgenommen, ebenso wie das verfügbare Erfahrungswissen. Erfahrungswissen wird durch Vertrauen in Experten ersetzt. Ein wiederum hochriskantes Geschäft. Experten liefern, wenn man sie denn überhaupt versteht, Informationen, die sich meist einer direkten Überprüfung durch den gesunden Menschenverstand entziehen. Das Denken in Kategorien des Risikos ist wie ein Virus, der sich in Form von Unsicherheit ausbreitet, für deren Begrenzung es eigentlich zuständig sein sollte.
    Wenn es einmal das Entwicklungsprinzip »Versuch und Irrtum« gegeben haben soll, gilt nun das Prinzip »Versuch ohne Irrtum«. Das neue Glaubenssystem verlangt Schadenswahrscheinlichkeiten, die gegen null und Erfolgswahrscheinlichkeiten, die gegen eins gehen. So wollte man etwa dem »Nullrisiko« beim ersten Golfkrieg Glauben verschaffen, als amerikanische Behörden der Öffentlichkeit die Doktrin des »Nullgefallenen« verkündeten. [123]   Folge: Enttäuschte Erwartungen, die aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
    Moderne Katastrophen werden mit Hilfe des Glaubenssystems Wissenschaft und Technik gedeutet und legitimieren die üblichen postkatastrophalen Appelle: noch mehr wissenschaftliche Beherrschung und technische Kontrolle, das heißt Risikominimierung.
    Deutungen von Katastrophen als Gottes oder des Schicksals Wille gelten als überholter Aberglaube. Der neue Aberglaube besteht nun in der Zuversicht, die Beherrschbarkeit und Kontrolle mit anderen Mitteln erreichen zu können. Nach dem Tsunami im Dezember 2004 mit 225000 Toten meldeten sich lautstark die Experten zu Wort: Durch ein leistungsstarkes Alarmsystem wären neun Zehntel der Opfer zu retten gewesen.
    Man behauptet, wirksam reagieren zu können – zum Beispiel bei Auftreten von Rinderwahn, Vogel- und Schweinegrippe oder EHEC. Ergebnis: Die Unsicherheit ist vollkommen. Die Fachleute sind nicht imstande, die Gemüter zu beruhigen. Sie können sich nicht einmal selbst glaubwürdig beruhigen. Sie hinterlassen stattdessen Ratlosigkeit und verstärken den Hang, jedem Gerücht Glauben zu schenken und sich jeder heilversprechenden, katastrophenprophylaktischen und traumaverhindernden Maßnahme zu unterwerfen, seien es Reiseverbote, Mundschutz, Impfungen, Medikamentenhortung oder die Empfehlung, auf Rindfleisch und Rohkost zu verzichten.
    Eines ist sicher: Ängste aller Art unterhalten einen großen Markt. Mit unserem Sicherheitswahn lässt sich viel Geld verdienen. Allerdings verdienen nicht alle daran. Aber alle müssen zahlen: 245 Mill. € für 29,8 Millionen nicht verbrauchter Impfdosen gegen die Schweinegrippe, nachdem 34 Millionen Dosen bestellt wurden. Im Herbst 2011 wurden die nicht verbrauchten Impfdosen im Müllheizkraftwerk Rothensee verbrannt. Das Müllheizkraftwerk bei Magdeburg hatte das günstigste Angebot unterbreitet: 14000 € – wirklich günstig angesichts der Anschaffungskosten.
    Vorher erzielte die Firma Roche mit der angeblichen Wunderwaffe gegen die Schweinegrippe, dem Medikament Tamiflu®, im Jahre 2009 einen Rekordumsatz von etwa 2,2 Milliarden Euro, nachdem die Bundesländer beschlossen hatten, sich von der Firma Roche einen Vorrat an Tamiflu® anlegen zu lassen, und das, obwohl es kaum Studien über das Medikament gab und keinen Beleg, dass es überhaupt eine Wirkung hat.

Alternative Traumatherapien: Reanimation des alten Glaubens
    Neben dem Aberglauben an Wissenschaft und Technik, der beruhigen soll, gibt es aber auch weiterhin den alten Aberglauben an Gottes Zorn.
    Pat Robertson, einer der einflussreichsten