Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Friedenszeiten, Freiheit, Aufbruch und Entwicklung, kurz: Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte posttraumatischen Wachstums , und das in fast allen Fällen ohne Traumatherapien. Menschen sind chronische Traumaüberwinder. Sie haben notwendigerweise ihre Filter und ihre Vorstellungen, sie haben sich Lebenserzählungen erfunden, die aber nicht das Leben sind und nicht ein für allemal festgeschrieben sind. Sie werden immer wieder neu erfunden und neu erzählt und dadurch den Erfahrungen angepasst. Lebenserzählungen haben Erzähler und Zuhörer, die aber auch nicht nur zuhören, sondern auch wiederum erzählen. Es entsteht ein Geflecht von Mithörern und Miterzählern. Es entsteht Kultur.
Der Umgang mit traumatischen Erfahrungen ist ein wesentlicher Teil unserer Kultur. Bewältigte, verdaute und integrierte Traumata sind Erfahrungen, über die man spricht und vor allem über deren Wirkung auf die kulturellen Filter und Glaubenssysteme man spricht und streitet. Traumata müssen also nicht sprachlos machen, sondern können eine Anregung zum Sprechen und für neues Sprechen sein: »Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt.« [121]
Posttraumatisches Wachstum oder posttraumatische Verzweiflung?
Was macht posttraumatisches Wachstum möglich? Was verhindert posttraumatisches Wachstum?
Posttraumatisches Wachstum besteht darin, die Erfahrungen, die man gemacht hat, anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen von sich und der Welt zu überprüfen, zu verändern und, wenn notwendig, durch neue zu ersetzen. Man akzeptiert etwa, wahrscheinlich auch in Zukunft nicht in der Lage zu sein, die anderen, die Welt und das Leben vollständig kontrollieren zu können. Man macht sich vielleicht mit der Vorstellung vertraut, auf niemanden zählen zu können, der einen vor leidvollen Erfahrungen schützt, oder dass die Welt und das Leben nicht verlässlichen Regeln gehorchen, die für Gerechtigkeit und Glück sorgen.
Voraussetzung ist allerdings, dass man sich eingesteht, durch ein traumatisches Ereignis verändert zu sein, dass man verwundbar ist, dass man verwundet wurde und das Leben nicht so verlaufen ist, wie man es sich gewünscht und erhofft hat. Traumatische Erfahrungen sind insofern wiederum auch nichts Besonderes, sondern ein Stück weit der Regelfall. Das menschliche Leben ist eine Folge traumatischer Erfahrungen.
Naturkatastrophen oder Glaubenskatastrophen?
Nicht nur Annahmen über die Welt können aus den Angeln gehoben werden, auch ein Teil der Welt selbst kann zusammenbrechen, und der Boden, auf dem man steht, kann verlorengehen: Denken wir an die eingangs erwähnten Katastrophen überindividuellen Ausmaßes wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis.
Aber auch wenn wir – wie selbstverständlich – in diesem Fall von Naturkatastrophen sprechen, gibt es keine Katastrophen oder Traumata ohne den Menschen. Die Natur kennt keine Katastrophen. Katastrophen kennt nur der Mensch, weil er das Geschehen als solches deutet.
Katastrophen – auch die Erfahrungen mit Naturkatastrophen – stellen wichtige, vielleicht die wichtigsten Herausforderungen für die kulturelle Ideenausstattung von Gesellschaften dar. Wie mit Katastrophen umgegangen wird, zeigt, welche gesellschaftlichen Weltbilder in einer Kultur gültig sind.
Dass der feste Grund kein sicherer Boden ist, dass die überschaubare Welt zusammenbrechen kann, wissen Menschen seit jeher: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Sturmfluten gab es, seit es Menschen gibt. Sie wurden Teil von Schöpfungsmythen, Naturmythen und Weltbildern und erhielten als Teil göttlicher Vorsehung oder Strafe ihren Sinn. Auf diese Weise konnte Chaos als Ordnung verstanden und verarbeitet werden.
Die Erschütterung des Glaubens an eine allmächtige und gerechte Göttlichkeit
Diese Vorstellung bekam am 1. November 1755 massive Risse. An diesem Tag wurde Lissabon durch ein gewaltiges Erdbeben und eine bis dahin für unvorstellbar gehaltene Flutwelle fast völlig zerstört. Eine 15 Meter hohe Welle ergoss sich in die Mündung des Tejo. Man feierte Allerheiligen, und viele Menschen hatten sich in den Kirchen versammelt, was zur Erhöhung der Opfer (10000 innerhalb weniger Minuten) beitrug. Zerstört wurde aber nicht nur Lissabon, sondern der Glaube an eine Schöpfung, die in sich stimmig ist, und an einen Schöpfer, der es gut meint. Die Zweifel nahmen überhand, ob diese
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