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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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unvorstellbare Katastrophe wirklich von einem allmächtigen Gott zu verantworten sei. Der gute und allmächtige Gott hatte mehr oder weniger ausgedient. Man brauchte neue Glaubenssysteme.

Das posttraumatische Wachstum oder die Erfindung des Blitzableiters
    Geradezu symbolisch für diesen Wandel im Welt- und Katastrophenverständnis ist die Erfindung des Blitzableiters, zeitgleich mit dem Lissaboner Erdbeben. Der Blitzableiter macht den Blitz zu einem von Menschen beherrschbaren Risiko. Jahrtausendelang waren Blitz und Donner Attribute der alles beherrschenden Götter. Der vom Himmel fahrende Blitz, der Angst und Schrecken verbreitet hatte, wurde nun auf die Erde geholt. Er wird zu einem weltlichen Ereignis, dem mit Wissenschaft und Technik beizukommen ist. Besonders Kirchtürme sind Blitzeinschlägen ausgesetzt. Nun konnten sie durch Blitzableiter geschützt werden, zumindest besser als durch Fürbitten. Der Blitzableiter an Kirchtürmen leitet den Abgang des alten Glaubenssystems ein und bringt das neue Glaubenssystem der Wissenschaft und Technik auf den Weg.
    Ein Weltverständnis, in dessen Zentrum der weise Ratschluss der Götter steht, unterscheidet sich aber nicht grundsätzlich von einem Weltverständnis, in dessen Zentrum die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit durch Wissenschaft und Technik steht. Beide sind gesellschaftliche Konstrukte oder Absprachen, die helfen sollen, einen festen Boden zu schaffen bzw. die Welt zu filtern, damit man darin zurechtkommt. Solange man damit zurechtkommt!

Die Erschütterung des Glaubens an Technik und Wissenschaft
    Aber auch in den Zeiten des Glaubens an die Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technik ereignen sich Katastrophen und bleibt unsere Verwundbarkeit bestehen. Die Traumatisierungsbereitschaft nimmt sogar zu. Die Ungewissheit kommt gewaltig zurück, je mehr Raum Wissenschaft und Technik in unserer Lebensführung einnehmen. Die Risiken wachsen in unserer Vorstellung, je mehr wir sie zu berechnen und zu minimieren suchen.
    Kennzeichnend für uns moderne Menschen ist unsere ambivalente Mischung von aktionistischer Selbstüberschätzung und lähmender Verunsicherung. Der Größenwahn und die depressive Lähmung und Selbstaufgabe scheinen zu den beiden vorherrschenden Lebensstilen geworden zu sein. Die selbstüberschätzende, kontrollierende Vermeidung des Schadenfalles geht mit der Aufgabe jeglicher Einflussnahme – sogar über Kontrollierbares – einher. Der Versuch, Risiken zu beherrschen, führt zur Herrschaft des möglichen Risikos über uns.
    Wer sich selbst als Urheber allen Geschehens begreift, sich für die Gestaltung der Welt verantwortlich fühlt, verantwortlich gemacht wird und sich verantwortlich machen lässt, das heißt, wer die Grundlagen des Lebens in menschlichen Entscheidungen sieht, lebt eben ständig in der Situation des Scheiterns. Handeln ist dann riskant geworden.

Der Glaube an die Sicherheit durch Risikoberechnung
    Gefahren existieren unabhängig vom Geschädigten. Er hat sie nicht verursacht und muss sie darum auch nicht verantworten. Ein Risiko dagegen geht auf das Verhalten und die Entscheidung des Handelnden zurück und muss daher von diesem verantwortet werden. Risiken sollen deshalb minimiert und in ein Nullrisiko verwandelt werden. Wie kann man das Risiko berechnen, um Entscheidungen sicher zu machen und Katastrophen zu verhindern?
    Sicherheit ist zu einem hohen Wert geworden, der sich parallel zum Risikodenken entwickelt. Die entsprechenden neuzeitlichen Verfahrensweisen der Sicherheits- und Risikomathematik entwickeln sich und reifen seit dem 17. Jahrhundert aneinander. Beide sind Teil des sich ausbreitenden Glaubens an Wissenschaft, Technik und mathematische Berechenbarkeit. Der Glaube an die Berechenbarkeit findet seinen Ausdruck im Prinzip der rationalen Kalkulation, einem Durchspielen von Gesetzmäßigkeiten. Diese Regelmäßigkeiten gehorchen unabhängig vom konkreten Fall einem ganz bestimmten Kalkül. Dieses Kalkül ist das Wahrscheinlichkeitskalkül, das vor der Renaissance unbekannt war und im 17. und 18. Jahrhundert einen rasanten Aufstieg erlebte.
    Die Kalkulation eines Risikos ist der Versuch, die Zeit zu beherrschen und die Zukunft zu disziplinieren. Das Konzept der Wahrscheinlichkeit spaltet die Wirklichkeit in konkurrierende Möglichkeiten auf, über deren tatsächliche Realisierung nichts gesagt wird. Die Wahrscheinlichkeit kann lediglich darauf abzielen, Ungewissheiten abzuschätzen und handhabbar zu

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