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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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das Leben genauso zu sehen wie der Depressive. Man teilt dieselben vergeblich angestrebten Soll-Werte. Man attestiert den Vorstellungen des Depressiven durch Zustimmung ihre Gültigkeit. Man macht die Soll-Vorstellungen des Depressiven zu seinen eigenen. Man steht in Treue fest zu dem Lebensentwurf und der Weltsicht des Depressiven. Schon nach kurzer Zeit denkt der Einfühlsame genauso wie der Depressive, und der Depressive fühlt sich dadurch in seinem Weltbild bestätigt. Aber nicht nur das: Die Gefühle und Stimmungen gleichen sich an. Es findet eine affektive Infektion statt. Eine stabile soziale Gemeinschaft von gleich Denkenden und gleich Fühlenden hat sich gebildet.
    Der Depressive steht nicht mehr alleine vor der Klagemauer, sondern zusammen mit einer solidarischen Glaubensgemeinde von mies Gestimmten. Diese Gruppe nun fühlt sich moralisch erhaben, weil ihre Mitglieder die Augen vor Leid und Schmerz nicht verschließen. Es entsteht eine Gemeinschaft des Leidens in Liebe. Doch liegt hier ein Missverständnis vor: Jemanden lieben heißt nicht, genauso zu denken und zu fühlen wie der Mensch, den man liebt. Dadurch lassen sich vielleicht Konflikte und die befürchtete Trennung vermeiden. Aber der Preis, den alle dafür zu bezahlen haben, ist hoch.
    Dazu ein letztes Beispiel. Frau Gruber leidet an Depressionen. Sie erkennt zwar, dass die Enttäuschung über ihren Mann und ihre Ehe einen wesentlichen Anteil an ihrem Zustand hat, ist aber nicht in der Lage, ihre Erwartungen und Ansprüche an die Beziehung zu verändern. Sie sieht es als ihren Liebesbeweis an, auch im persönlichen Leid bei ihrem Mann zu bleiben. Dieser wiederum empfindet das Leiden seiner Frau als persönliche Schuld, die er vergeblich abzutragen versucht. Beide haben sich auf ein gleiches Glaubenssystem eingespielt, eine Ehe, die mehr einem Kreuzweg gleicht als einer Verbindung, aus der man auch Energie und Freude ziehen kann. Dabei müsste Trennung nicht zwangsläufig der einzige Ausweg aus dem ehelichen Leidensghetto sein. Den Partner nicht für das eigene Glück verantwortlich zu machen und sich selbst nicht für das Glück des Partners würde möglicherweise schon ausreichen.

10
    Die biologische Entsorgung von Depressionen
    Wie entledigt man sich eines beunruhigenden und/oder unerwünschten Tatbestandes?
    Eine bewährte Methode ist es, so zu tun, als sei das Geschehen dem eigenen Willen entzogen: zum Beispiel, weil eine Krankheit vorliegt, für die man nicht verantwortlich gemacht werden kann. Und schon ist die Welt wieder einigermaßen in Ordnung, alles kann so weitergehen wie bisher. Besonders effizient ist die Entsorgung, wenn es gelingt, den beunruhigenden Vorgang als körperliche Krankheit zu definieren.

Mad or bad?
    Die Vorteile der biologischen Entsorgung mieser Stimmungen liegen auf der Hand: Beschuldigungen und Selbstbeschuldigungen erübrigen sich oder können doch drastisch reduziert werden. Wir tragen keine Schuld an dem Zustand, der uns ereilt hat. Stattdessen sind wir ein Opfer biologischer Vorgänge. Und die kann man untersuchen; es entsteht ein riesiges Betätigungsfeld für professionelle Biofahnder und Biotechniker. Zeitaufwendige Sprechstunden und Sprechtherapien erübrigen sich. Nun scheint es absurd, dass die konstatierte miese Stimmung etwas mit den Vorstellungen und Ansprüchen des Patienten oder gar mit dem ihn umgebenden Zeitgeist zu tun haben soll. Der Depressive ist ein Produkt und Opfer seiner Biologie. Im Grunde hat er nichts mehr mit seiner Depression zu tun; sie wird im Hirnstoffwechsel entsorgt.
    Dort, wo das Gehirn gewinnt, verliert aber der Geist. Wo vor allem Neurotransmitter, Synapsen und Moleküle von Bedeutung sind, lässt das Interesse an den Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen depressiver Menschen nach und verschwindet nach einiger Zeit ganz.

Bei Depressionen stört vor allem der Depressive
    Wenn die Depression nichts anderes ist als eine Erkrankung des Gehirns, ist der Depressive selbst nicht mehr Mitgestalter seines Lebens. Seine Freiheit, Erfahrungen zu deuten und zu werten, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, wird dadurch eingeschränkt. Die biologische Psychiatrie lenkt nicht nur vom sozialen Dilemma des Depressiven ab, sondern macht es unsichtbar und unlösbar. Verständlicherweise, denn sie kann es ja auch gar nicht lösen.
    Aber nicht nur das. Schauen wir uns das folgende Experiment an. [205]   In der betreffenden Studie sollten Testpersonen zusammen mit einem Partner

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