Milchblume
Und dass er sich bemühe, keine vorgefertigten Antworten zu geben. Stattdessen versuche er, auf eine Art zu antworten, die es sowohl dem, der frage, als auch ihm selbst ermögliche, Unbekanntes zu entdecken und Ungedachtes zu denken.
»Hüte dich vor allzu raschen Urteilen«, hat Fabio zu mir gesagt. »Oft sind sie, bemerkt oder nicht, Vorurteile, also versteinerte Meinungen. Sie hindern dich, unvoreingenommen dein Hirn und dein Herz zu befragen.« Als er so geredet hat, ist er auf einen neuen Gedanken gestoßen. »Es ist erstaunlich«, hat er gemeint, »wie viel wir nicht wissen. Aber noch erstaunlicher ist, was wir als Wissen betrachten.«
»Wenn man bescheiden ist«, habe ich mich sagen getraut, »ist man der Wahrheit wahrscheinlich näher.«
Daraufhin hat mich Fabio, glaube ich, beeindruckt angeschaut. Ein bisschen zumindest. Jedenfalls ist in unserem Gespräch eine anerkennende Pause entstanden. Das war schön. Und ich habe aufpassen müssen, nicht allzu stolz darauf zu sein.
Ich glaube, dass Fabio mehr vom Leben weiß und kennt als das, was zwischen Erde und Himmel für jedermann zu sehen ist. Und ich bin froh, dass er mein Freund ist. Einmal hat er mich zu sich gerufen und gesagt, dass er ein Geschenk für mich habe: Die Klaue eines Hahns. Er hat mir die Kralle gezeigt und betont, dass er sie selbst im Feuer gehärtet habe. Er hat gemeint, so wie mir der Hahn damals, als wir uns kennengelernt haben, geholfen habe, die Nacht zu überleben, so würde mir auch die Hahnenkralle gute Dienste erweisen. Die Kralle, hat mir Fabio erklärt, sei schlimmer als der Schlagring, weil sie nicht nur betäube, sondern das Fleisch aufreiße. Vor nicht allzu langer Zeit verwendeten die Zigeuner sie zum Schutz gegen Wölfe. Fabio hat mir vorgeführt, wie die Kralle in die Hand zu legen ist. Wenn die Faust fest um die Waffe geschlossen ist, ruht ihr flaches Ende sicher in der Höhlung der Handfläche. Er hat erzählt, dass die jungen Zigeuner diese Waffe im Verlauf einer rituellen Zeremonie bekämen und damit zu vollwertigen Mitgliedern der Sippe würden. Ich sei zwar kein Zigeuner, aber er wolle mir mit diesem Geschenk seine Wertschätzung zeigen. Und dass ich nun reif genug sei, weise damit umzugehen.
Ich bin sicher, meine Ohren haben geglüht damals, vor Ehrgefühl, aber noch viel mehr vor Scham. Ich habe den Kopf gesenkt. Und wahrscheinlich habe ich gestottert, als ich Fabio daran erinnert hab, dass eine Lähmung in meine Arme schießt, sobald ich Gewalt mit ansehen muss. Und dass ich mich noch kein einziges Mal verteidigt habe, ja wirklich, kein einziges Mal, aus Angst vor meiner Kraft, aus Angst, zu fest zuzuschlagen. »Es tut mir leid«, habe ich zu Fabio gesagt, »aber ich habe leider keine Verwendung für dein Geschenk.« Er hat gelächelt, und dabei haben sich die Spitzen seines gezwirbelten Barts gehoben. »Du hast tiefe Abscheu vor Gewalt«, hat er gesagt, »eine Abscheu, die ihren Ursprung in deinem Inneren, in deiner Vergangenheit hat.« Deshalb, hat er gemeint, bekäme ich diese Krämpfe wenn ich Gewalt sähe. Deshalb würde ich auch niemals zuschlagen. Und dennoch, hat er gemeint, dennoch werde einmal der Moment kommen, der danach verlangen würde, ein anderer zu sein, rasch ein anderer.
Nachdem er das gesagt hat, wollte er gar nicht wissen, ob ich sein Geschenk nun doch haben möchte. Bevor ich abwehren konnte, hat er mir die Hahnenkralle ganz einfach in die Hand gelegt. Ich war überrascht. Es war ein gutes Gefühl. Ich habe sie mit meinen Fingern umschlossen.
4.
A m frühen Morgen des Allerheiligentages fand Jakob im Stall des Huber-Bauern die tote Kuh. Sie musste verblutet sein, oder an inneren Verletzungen gestorben. Aus ihrem Geschlecht ragte ein hölzerner Besen.
Breitbeinig stand Jakob vor dem Tier. Der Hals der Kuh war tief eingeschnürt, vom Seil, mit dem sie am Kobel festgezurrt war. Auch einer ihrer Hinterläufe war an den Balken gebunden. Jakob zitterte, flach ging sein Atem.
»Wer war das?«, fragte er halblaut, wie mit sich selbst redend. Die anderen Tiere standen da, als sei nichts geschehen. Manche waren völlig reglos, andere stiegen im Stehen von einem Bein aufs andere.
Jakob sah auf. »Wer war das?«, schrie er plötzlich, »Sagt mir, wer das war!«
Die Kühe wandten ihre Köpfe ab, manche blickten zu Boden.
Da bemerkte er, dass auch die nächststehende Kuh blutete. Ein leises Bächlein rann aus ihr, verteilte sich an der Innenseite ihrer Hinterläufe, versickerte in ihrem Fell. Und
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