Milchblume
nachschrie, sie solle sich nur ja vor den Zigeunerbuben in Acht nehmen, den dreckigen. Aber auch diese Warnung blieb ungehört. Die Großmutter hatte nicht allzu viel Kraft in ihre Stimme gelegt.
Wenig später tauchten aus allen Himmelsrichtungen Menschen auf. Sie schritten über die Felder und die Wiesen, eilten den Weg entlang, kamen vom nahen Dorf, bogen in Gruppen von der Landstraße herein. Wie aus heiterem Himmel waren sie aufgetaucht, und es dauerte nicht lange, da drängte sich eine dicke Traube schwatzender und ungeniert mit den Fingern zeigender Menschen um den Wagen der Fahrenden. Niemand hatte sie alarmiert oder herbeigerufen. Aber in Legg war es nun einmal so, dass es nicht einmal eine fremde Katze geschafft hätte, sich unbemerkt dem Dorf zu nähern.
Und so gaffte Jung und Alt in den mittlerweile von seiner Plane befreiten Wagen und bestaunte all die unbekannten, teils funkelnden, teils fremdländisch anmutenden Wunderdinge, die von der vielköpfigen Zigeunerfamilie präsentiert wurden. Abseits hielten sich anfangs nur der Bürgermeister und der Pfarrer. Schließlich galt es, den anderen ihre Würde vor Augen zu führen. Doch bald wurden auch ihre Hälse länger. Schritt für Schritt, die sie glaubten voreinander geheim halten zu können, näherten sie sich dem Wagen. Immer mühevoller wurde ihnen die Kontrolle über ihren angestrengt erhabenen Gesichtsausdruck, immer stärker zog das Treiben sie in seinen Bann, und immer bedingungsloser ließen sie sich vom Durcheinander anstecken, um schließlich und endlich gänzlich dem Zauber zu erliegen: mit selbstvergessenen Gesichtszügen, kindlich glänzenden Augen und vor Begeisterung offen stehenden Mündern.
***
Ich war noch ein Kind und muss hohes Fieber gehabt haben, als die Zigeuner vor vielen Jahren zum ersten Mal bei uns vorbeigekommen sind. Als sich Fabio über mich gebeugt hat, war ich sicher, er sei ein Geist.
Der Geist hat nach Tabak gerochen und nach frisch gestriegeltem Pferdefell. Er hat seine tellergroße Hand auf meine nasse Stirn gelegt und mir dann so fest mit der anderen auf die Brust gegriffen, dass ich glauben hätte können, er habe es auf mein Herz abgesehen. Trotzdem bin ich nicht erschrocken, habe es ganz ruhig über mich ergehen lassen. Irgendwie habe ich nämlich gefühlt, dass es ein guter Geist war. Als er mir mit seinem Handballen ein Auge zugehalten und das andere mit Zeigefinger und Daumen weit aufgezwängt hat, haben mich seine buschigen Augenbrauen beeindruckt und sein kunstvoll gezwirbelter Bart.
»Dein Sohn braucht dringend einen Arzt«, hat Fabio zu meinem Vater gesagt.
Aber der hat gemeint: »Ach wo, der wird schon wieder«, und hat eine seiner wegwerfenden Handbewegungen gemacht.
»Wenn du dir keinen Arzt leisten kannst«, hat Fabio nicht nachgegeben, »werde ich ihm helfen. Er stirbt sonst.«
»Der stirbt nicht so schnell«, hat der Vater gebrummt und verärgert dreingeschaut. »Ich kenn ihn. Unkraut vergeht nicht. Spar dir deine Zeit.«
»Keine Sorge«, hat Fabio gesagt und mich angeschaut. Dann hat er sich zu meinem Vater umgedreht. »Ich verlange nichts dafür.«
Dieser Geist ist klug, habe ich mir damals gedacht. Er ist kaum bei uns, und schon kennt er die Ängste der Menschen hier. Meine, und die meines Vaters.
»Mund auf«, hat Fabio befohlen, als er wenig später mit mir allein gewesen ist, und dann hat er mir einen Holzlöffel mit einer pelzig weichen Masse in den Mund geschoben. »Du hast Glück, Jakob«, hat er gesagt und sich scheinbar mit mir gefreut, und ich habe seine großen, gelben Zähne gesehen. »Du hast großes Glück«, hat er wiederholt und zufrieden genickt. »Die Milchblume blüht üppig und stark. Sie wird dir neues Leben schenken, deinem Gesicht Farbe einhauchen und Ruhe in dein Blut zaubern.« Ich habe die Augen geschlossen und gleich wieder geöffnet, als Zeichen, dass ich verstanden habe. Als Zeichen für mich, dass alles in Ordnung ist, hat er gelächelt. Und dann hat er sich mit einem Satz verabschiedet, von dessen Gewissheit eine so starke Kraft ausgegangen ist, dass er alleine wahrscheinlich ausgereicht hätte, mich wieder gesund werden zu lassen. Er hat seinen festen Blick auf mich gerichtet und gesagt: »Die Milchblume wird dich heilen.«
Erst später, erst als ich wieder auf den Beinen war und den Zigeunern ihren halben Wintervorrat Medizin weggegessen hatte, habe ich erfahren, was mich ins Leben zurückgeholt hat. Es war natürliches Penizillin. Fabios Frau hat es
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