Milchblume
gezüchtet. Das hat sie immer gemacht vor dem Winter. Dazu hat sie am Rand eines Teiches eine Grube ausgehoben, sie mit Tonerde abgedichtet und ein kleines Loch in den Boden gestochen, damit die Grube immer frisch und feucht blieb. Dann hat sie darin Frischkäse auf Weidendarren gebettet und die Grube mit einem Holzdeckel und mit Erde verschlossen. So hat sie den Frischkäse zum Schimmeln gebracht. Oder wie Fabio gesagt hat: »So ließ sie die Milchblume erblühen.«
An dem Abend damals, als mein Fieber noch so hoch war, dass ich im Traum verworrenes Zeug dahergeredet hab, ist Fabio noch einmal zu mir in die Kammer gekommen. An seiner Hand hing, kopfüber und scheinbar leblos, unser größter und schönster Hahn. Fabio hatte die Hand fest um seine Klauen geschlossen und ihn wie einen Sack Zwiebeln herein getragen. Ich habe gefürchtet, dass er ihn für mich kochen wollte. Ich habe gefürchtet, Vater würde das sicher überhaupt nicht gut finden.
»Der Hahn wird dich schützen«, hat Fabio gesagt, die Tür hinter sich zugezogen und das Tier, es schien nun wieder lebendig, neben das Kopfende meines Strohbetts platziert. »Der Hahn«, hat Fabio mit dem verständigen Ton eines Arztes gesagt, »der Hahn wird den Totengeistern befehlen, ins Schattenreich zurückzukehren.«
»Und zwar ohne dich«, hat er nach einer kurzen Pause ergänzt. Daraufhin hat sich unser Gockel aufgerichtet, zwei-, dreimal mit den Flügeln geschlagen und gleich darauf wieder den ihm zugewiesenen Platz eingenommen. Sein Auftritt war wie mit Fabio abgesprochen.
Ich habe noch einen weiteren Löffel Milchblume in den Mund geschoben bekommen. Dann hat sich Fabio verabschiedet und mich mit meinen Fieberphantasien allein gelassen. Und mit dem Hahn. Sein rhythmisches Scharren hat mich in meinen wirren Schlaf begleitet.
Das war der Tag, an dem ich Fabio kennengelernt habe. Fabio ist das Oberhaupt seiner Sippe. Neben seiner Frau und den Großeltern besteht seine Familie aus sieben Kindern jeden Alters. Die Großmutter findet, nebeneinander gestellt schauen sie aus wie die Orgelpfeifen.
Seit ich Fabio und die Seinen kenne, ist die Zeit von Spätherbst bis Frühlingsbeginn meine liebste Jahreszeit. Es ist die Zeit, in der Fabio mit seiner Familie bei uns den Winter verbringt und im großen Stadel die Rösser abschirrt und den Planwagen unterstellt. Außer Silvia sind Fabio und seine Leute die Einzigen, die mich behandeln als wäre ich normal. Vielleicht machen sie das, weil sie sich selbst wünschen, normal behandelt zu werden. Mit ihnen fühle ich mich so leicht und froh, dass ich Fabio einmal gefragt habe, ob ich nicht auch Zigeuner werden könne. Daraufhin hat er gelacht und geantwortet, dass niemand Zigeuner werden kann, der es nicht schon einmal gewesen ist. Damals habe ich seine Antwort nicht verstanden. Er hat sie in einem geheimnisvollen Ton gesprochen, und seine zusammengekniffenen Augen haben mich vermuten lassen, dass er selbst nicht ganz sicher ist, was seine Antwort für mich zu bedeuten hat. Überhaupt redet Fabio immer in Geschichten. Und ich glaube, hin und wieder überrascht er sich selbst damit. Als ich ihn einmal darauf angesprochen habe, hat er mich groß angeschaut. Dann haben sich seine Backen aufgebläht, und plötzlich hat er angefangen, loszuprusten. Laut und kehlig hat er gelacht, hat sich überhaupt nicht mehr erfangen, hat sich auf die Schenkel geschlagen und seinen Bauch gehalten. Vor Lachen hat er sich sogar vor mir auf dem Boden gewälzt, wirklich, dieser erwachsene Mann hat sich vor mir auf dem Boden gewälzt. In dem Moment habe ich geglaubt, das hört nie wieder auf. Weil ich das nicht wollte, habe ich ihn mitten in seine Ausgelassenheit hinein gefragt, ob ich was Blödes gesagt hab. Da hat er sich endlich beruhigt. Er hat sich die Tränen aus den Augen gewischt, mich mit beiden Händen bei den Schultern genommen und beteuert, dass ich der Letzte sei, der sich blöd vorkommen müsse. Das Verrückte in der Welt ist, hat er gesagt, dass die Klugen immer voller Zweifel sind, die Dummen aber stets so sicher. Gelacht habe er, weil ich, der ich von allen als Idiot verspottet werde, der Erste sei, der sein Geheimnis entdeckt habe. Ja, hat er gesagt, ja, ich hätte recht, er sei manchmal wirklich selbst von seinen Antworten überrascht. Das liege daran, dass er von seinem Urgroßvater gelernt habe, auf schwierige Fragen nicht mit Ja oder Nein zu antworten, weil die Wahrheit meist eine andere Farbe habe als Weiß oder Schwarz.
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