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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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höchste Ast war, und sein emporgestreckter Arm der himmlischste Zweig. Den Wipfel der Buche hatte er fest zwischen die Beine genommen. Ganz oben stand er, auf den letzten dünnen Ästen. Dass sie ihn zu tragen vermochten, war erstaunlich. Jakobs linke Hand griff nach unten, zog seinen Körper gegen den Wipfel.
    Baumwipfel-Jakob. Schneeflockenumkreist. Im Winterwind wogte er hin und her. Sanft und doch bedrohlich neigte er sich nach rechts. Und wieder nach links. Wie selbstverständlich malte der Wind mit seinem Körper eine elliptische Bahn in die kalte Morgenluft.
    Er hatte die Angst spüren können, als er so weit geklettert war wie noch nie. Doch die Neugier war stärker gewesen. Jakob wollte wissen, wie es ist, im Himmel zu sein. Wollte den Schneeflocken entgegenstreben und war gespannt, ob die Kris­talle noch reiner sein würden, noch feiner, ganz oben, in ihrem Element, der Luft. Er wollte sich wiegen im Wind wie es für gewöhnlich nur die Vögel und die Bäume vermögen. Und jetzt, da der Wind ihn schaukelte und er eins war mit seinen Träumen, und also schicksalsergeben, war nichts mehr da von seiner Angst.
    Am Tag zuvor hatten sie begonnen, das Korn zu dreschen. Als altmodisch galt das, auch schon zu jener Zeit. Doch der Seifritz-Bauer hatte nachgerechnet und nachgerechnet, und war schließlich nach langem Hin und Her und mit heißem Kopf zum Ergebnis gelangt, dass sich eine Korndreschmaschine nicht lohne – seiner groben Schätzung nach.
    Zu siebent waren sie also auch diesen Winter auf dem Heuboden gestanden, im Kreis, und hatten auf die Ähren eingeschlagen: der Seifritz-Bauer, seine Söhne Hans, Fritz und Jakob sowie Fabio und dessen zwei Älteste. Abwechselnd hatten sie das Korn mit den Dreschflegeln bearbeitetet. Hatten, um Takt zu halten, beim Schlagen mit den Holzstangen rhythmisch alte Bauernsprüche geleiert: »Huckt a Madl hinterm Stadl, flickt und naht und is gaunz stad.« Sieben Männer im dumpfen Chor: »Huckt a Madl hinterm Stadl, flickt und naht und is gaunz stad.« Immer und immer wieder: »Huckt a Madl hinterm Stadl, flickt und naht und is gaunz stad.«
    Die hohe Kunst des Dreschens verlangte Anfängern einiges ab. Hielt man etwa die Drischel aus Respekt zu fest, konnte man sich leicht verletzen. Wurde die Stange aber ungeübt zu locker gehalten, machte sie einen Satz, und die erfahrenen Drescher hatten allen Grund zu spöttischem Gelächter. Mit dem richtigen Griff hatte Jakob längst keine Schwierigkeiten mehr. Sein Problem war ein anderes: die Träumerei. Wenn die Hölzer knatternd und polternd auf die Ähren und den Bretterboden niedergingen, geriet Jakob ob des eintönigen Rhythmus alsbald ins Schwärmen, driftete ab. Dann waren es nur noch seine Arme und seine Schultern, die sich für das Ausführen der Schläge zuständig fühlten. Losgelöst von Jakobs Geist erfüllten sie ihre Arbeit, selbständig und der gelernten Gewohnheit folgend. Der Kopf des Burschen unternahm indes abenteuerliche Ausflüge, wollte sich niemals lange allein mit der eintönigen Drescherei abfinden und galoppierte deshalb umher ohne Weg und Ziel, erklomm neue Höhen und landete letztendlich doch immer nur beim Wichtigsten überhaupt, bei Silvia. Ab da war es um Jakob freilich vollends geschehen. Fehlte es beim Dreschen aber mehr als nur einen Augenblick an Konzentration, schlugen die Enden der Hölzer krachend aneinander, vibrierten schmerzhaft in den Händen. Dann setzte es eine Kopfnuss für den Verursacher der beißenden Unterbrechung. Also für Jakob.
    Ihre Tagesarbeit, etliche Säcke gedroschenes Korn, hatten die Männer mit schmerzendem Rücken auf den Dachboden geschleppt. Drei Säcke wurden zur Seite gestellt. Der Seifritz-Bauer würde sie zur Mühle bringen und mit frischem Mehl zurückkehren. Das Stroh wiederum wurde verstaut, damit die Frauen und Kinder in den nun wieder länger werdenden Winterabenden Bänder für die nächste Ernte fertigen konnten. Zudem freuten sich an den ersten Wintertagen alle auf ein neues Bett. Nun war es nämlich an der Zeit, die alten Strohsäcke aus Leinen zu leeren, in die Scheune zu tragen und mit frischem, duftendem Stroh neu zu füllen.
    Der ungewohnt starke Duft des Strohs war es auch gewesen, der Jakob an diesem Morgen noch zeitiger als sonst hatte erwachen lassen. Es würde ein wunderbarer Tag werden, das fühlte Jakob, noch bevor er die Augen aufschlug. Er genoss das lustige Vibrieren seines Herzens und wurde prompt belohnt für seine Fröhlichkeit: Als er

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