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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Ältere und Gröbere der beiden, zu mir gesagt hat, dass sie alles wüssten. Dass sie mitangesehen hätten, was ich gemacht hätte. Dass ich es gewesen sei, ja ich, der es mit der Kuh getrieben hätte. Dass ich es gewesen sei, der ihr danach den Besenstiel in den Unterleib gerammt hätte. »Perverse Sau!«, hat Kurt geschrien und mir ins Gesicht gespuckt.
    Ich habe auf einen gestreckten Faustschlag gewartet, auf beißende Ohrfeigen, harte Fußtritte, ich habe endlich ordentlich verprügelt werden wollen, erlöst von meinen Gedanken, aber nichts ist passiert. Vielleicht haben Kurt und Franz gewusst, dass sie mir einen schlimmeren Schmerz nicht mehr hätten zufügen können. Um mich hat sich alles gedreht. Ich habe versucht, zu überlegen, habe versucht, herauszufinden, ob es stimmen konnte, was die beiden da behaupteten. Ich bin es gewesen, der den Kühen das angetan hat? Das Herz in meiner Brust hat so laut gepumpert, dass ich überhaupt nicht mehr ordentlich habe nachdenken können. Kurt und Franz hatten mich beobachtet. Alle beide. Das weiche Moos ist mir eingefallen, in das ich schon oft meine Lust entladen hab, die flauschigen Federn der Hühner und Küken, die ich eigens ­gesammelt habe und in meiner Truhe versteckt hielt, faulig weiche Äpfel, in die ich schon meinen Samen ergossen hab, der Kürbis, der nass-glitschige Lehm und sogar das schöne Rheuma-Katzenfell der Großmutter. Bevor ich meine Gedanken beieinander gehabt habe und antworten habe können, hat Kurt gesagt, dass sie mich nicht verraten würden.
    »Was?«, habe ich gefragt, weil für mich damit alles nur noch komplizierter geworden ist.
    »Wir verraten dich nicht«, hat Kurt wiederholt, und dabei ist er mir mit seinem pockennarbigen Gesicht so nahe gekommen, dass ich geglaubt hab, seine beiden prallen Eiterpickel an der Oberlippe und am Nasenflügel schmecken zu können. Sie würden dicht halten und mich nicht verraten, hat er gesagt, aber nur, wenn ich für sie eine gute Tat vollbrächte. Es sei etwas, das mir auf den ersten Blick vielleicht schlecht und unrecht vorkommen könnte, aber in Wirklichkeit sei es gut, sehr gut. Stimmt’s, hat Kurt gesagt, und sein jüngerer Bruder Franz hat rasch genickt.
    Die Lagler-Brüder wollten, dass ich für sie ihren Hof anzünde. Wenn er abgebrannt wäre, würde ihnen die Versicherung viel Geld zahlen, und sie könnten in die Stadt gehen. Mich würde niemand verdächtigen. Und sogar wenn, wäre das kein Problem. Sicher nicht. Denn ich sei ja behindert, ein Schwachsinniger, und niemand, keine Menschenseele, werde mich Deppen jemals zur Rechenschaft ziehen.
    Ich weiß nicht warum, aber plötzlich haben sie mich losgelassen. Ich habe mir mit dem Ärmel ihre Spucke aus dem Gesicht gewischt.

5.
    I n Legg dachte bald niemand mehr an die Sache mit den geschändeten Kühen. Zumindest sprach keiner mehr darüber. Irgendwie war das Thema allen unangenehm. Und das, obwohl die Leute hier wie anderswo nicht gerade heikel waren. Für gewöhnlich hatten sie teuflischen Spaß daran, scheinheilig die Nase zu rümpfen beim Besprechen und Ausweiden von Grauslichkeiten. Doch diesmal war es anders. Diesmal überstieg das Geschehene die Grenzen des Erträglichen. Der abstoßende Hergang im Kuhstall des Huber-Bauern war ihnen auf eine eigentümliche Weise peinlich, weil nicht gänzlich fremd. Deshalb waren die Menschen erleichtert, abgelenkt zu werden, anderes zum Reden zu haben. Etwas, das sie nicht betraf. Etwas, worüber sie den Kopf schütteln konnten, ohne dabei in Gedanken über sich selbst zu verfallen. Diese neue Ablenkung verdankten sie Jakob. Wie so oft.
    Silvia war die Erste, die ihn sah. Ihre Lippen begannen zu zittern, als sie ihn hoch oben bemerkte. Die Angst um ihn ließ sie die dicken Schneeflocken nicht spüren, die der Wind ihr zuwehte und um sie tanzen ließ. Die Flocken landeten auf ihrem Gesicht, veränderten rasch ihre Form, schmolzen, und so sah es aus, als würde Silvia weinen. Sie hörte ihr Herz schlagen, dröhnend in ihrem Kopf, wild in ihren Ohren. Sie kniete nieder. Kniete mit gesenktem Kopf im frischen, knöcheltiefen Schnee, den die Wolken der Nacht übers Land verteilt hatten. Das Mädchen faltete die Hände und dann hörte es nicht mehr auf, um Jakobs Leben zu beten.
    Er war weit oben, am Rand des Himmels. In der Krone der allerhöchsten Buche war sein Körper zu erkennen. Bis an die Spitze des Baumes war Jakob geklettert, so hoch, bis es nicht mehr weiter ging, so hoch, dass er selbst nun der

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