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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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seine Nase gegen die dünne Fensterscheibe der Kammer presste, schickte ihm der Mond Schneeflocken vor die Augen, wehte sie ihm zu, einer Einladung gleich. Da wusste Jakob, dass er sich nicht lange bitten lassen dürfe, dass es sich nicht gehöre, das Leben ungegrüßt vorbeistreichen zu lassen, wenn es doch, wie so oft, nur eines kleinen Hopsers bedurfte, um mitten hineinzuspringen.
    Als Jakob seine Handflächen auf den dicken, kalten Stamm seiner Lieblingsbuche gelegt hatte, wusste er, dass er diesmal ganz hinauf klettern würde. Gleich, wie schwer es ausgerechnet heute sein würde, bei all dem frischen Schnee, den klammen Fingern und dem Wind.
    Als der Seifritz-Bauer nach Jakob schrie, den Dreschflegel über dem Kopf schwingend, und mit hochrotem Kopf wegen der vielen Wut, war der Bursche nicht mehr von dieser Welt. Längst war er Teil des Stammes, waren Arme und Finger Äste und Zweige geworden, auf die der Schnee sich legte. Die beißende Kälte in seinen Gliedern fühlte Jakob nicht mehr, und der Schmerz in seiner Hand, mit der er den Baum umklammert hielt, war verflogen.
    »Du Hornochs!«, brüllte sich der Seifritz-Bauer die Seele aus dem Leib. »Komm sofort runter, du arbeitsscheuer Narr! Aber auf der Stelle, sonst breche ich dir alle Knochen!«
    Es war nicht das Geplärre des Bauern, das Jakob herunterklettern ließ. Silvia war es. Plötzlich und auf einen Schlag hatte er ihre Gedanken gefühlt, gerade in dem Moment, als ihn der Wind in einer wunderbaren Seitwärtsdrehung nach hinten schaukeln ließ. Jakob öffnete die Augen, blickte nach unten und sah sie sofort. Sie kniete am Boden. Im Schnee. Der Anblick zerrte an seinem Herzen.
    Silvia entfaltete ihre Hände erst, als Jakobs klobige Schuhe vor ihr in den Schnee traten, hob erst ihren Kopf, als sie seinen schnellen Atmen und sein verlegenes Hüsteln über sich hörte. Erst als sie ihn leibhaftig vor sich hatte, stand sie auf. Und dann tat sie etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte. Zum allerersten Mal in ihrem Leben gab sie ihm eine Ohrfeige. Eine feste. Der Bauer war so überrascht, dass er völlig vergaß, selbst Hand an Jakob zu legen. Mit offenem Mund senkte er den eben noch so bedrohlichen Dreschflegel, schluckte, und sah Silvia nach, die mit energischen Schritten davonmarschierte. Ähnlich stutzige Gesichter machten Hans und Fritz, die sich um das Schauspiel einer Zurechtweisung ihres Bruders betrogen fühlten. Und auch Jakob war verwirrt. Zuerst glaubte er sich ungerecht behandelt und schmerzlich verletzt. Doch noch bevor der Abdruck von Silvias Hand auf seiner Wange an Kontur verloren hatte, bemerkte er mit einem immer breiter werdenden Grinsen, dass die Ohrfeige seiner Schwes­ter kein so schlechtes Zeichen gewesen sein konnte.
    Die sonst so weichherzige Silvia hatte aber nicht nur alle Umstehenden erstaunt. Sie selbst war von ihrem Gefühlsausbruch derart überrascht worden, dass ihr schwarz wurde vor Augen. Mit angestrengter Konzentration versuchte sie, ihren Taumel loszuwerden. Dann setzte sie einen grimmigen Blick auf und hielt ihn durch, den ganzen Weg. Als sie beim Hof angelangt war und mit wild klopfendem Herzen das Geschehene so halbwegs geordnet hatte, nahm ein beängstigender Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an. Und als sie kurz darauf mit hochroten Backen in die Küche trat, gestand sie sich schließlich ein: Sie hatte sich verraten. Ihre Ohrfeige hatte sie verraten. Nichts hätte deutlicher zeigen können, dass sie fortan Anspruch auf Jakob erhob. Und diese Ohrfeige, die ihr passiert war, war es auch, die all ihre bisherigen Versuche, die Zuneigung zu Jakob als innigliche Schwesterliebe zu deuten, als Selbsttäuschung bloßstellte. Jedem, wusste Silvia, jedem, der Augen im Kopf hatte, jedem mit auch nur halbwegs intaktem Verstand, musste nun klar sein, was los war. Spätestens jetzt waren ihre Gefühle offengelegt.
    Ihre Sorgen waren völlig unbegründet. Den Geist des Vaters etwa erhellte nicht der Funke einer Ahnung. Das hatte Silvia dem Umstand zu verdanken, dass der Seifritz-Bauer nicht gerade wendig war in seinen Gedanken. Es dauerte für gewöhnlich erstaunlich lange, bis er etwas erkannte, das es bisher nicht gegeben hatte oder hatte geben dürfen. War aber eine Idee erst einmal in seinem Hirn drinnen, bekam man sie auch schwer wieder heraus. Der Seifritz-Bauer war da kein Einzelfall. Alle Legger hielten hartnäckig an ihren Sitten fest, an ihrem Aberglauben, ihren Vorurteilen. So behielt die Welt ihre beruhigende Ordnung, war

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