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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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überschaubar in einem handlich engen Rahmen.
    Eine Abweichung vom Gewohnten war an diesem Tag lediglich bei Jakob zu bemerken. Oder auch nicht, denn bei ihm passten verrückte Anwandlungen schließlich ins Bild. Und so dachten sich der Bauer und seine Söhne Hans und Fritz an diesem Tag nicht sonderlich viel, als Jakob beim Korn­dreschen von besonderen Kräften beseelt zu sein schien. Als könnte er endlos mit demselben Eifer weiterarbeiten, war es den ganzen Tag über sein Dreschflegel, der am stärksten und lautesten auf den Boden polterte. Jakob war es auch, der beim Rufen der rhythmischen Drescher-Sprüche so überschwänglich und ohrenbetäubend einsetzte, dass ihn die anderen verblüfft anstarrten. Und so waren es diesmal sie, die aus dem Takt gerieten.
    ***
    »Wenn du nicht willst, dass dich alle für verrückt halten«, hat Silvia einmal zu mir gesagt, »dann musst du normal sein.« Daraufhin habe ich wahrscheinlich zu lange und zu laut lachen müssen, aber ich habe nicht anders können. Silvia hat es überhaupt nicht lustig gefunden. Sie hat ein bitterernstes Gesicht gemacht und gefragt, ob es mir egal sei, dauernd verspottet zu werden. Ich habe sie angeschaut, und in dem Moment habe ich so sicher wie noch nie gewusst, dass ich wirklich ein Idiot war. Ihr verzweifelter Blick hat es mir bewusst gemacht. Nie habe ich bemerkt, dass die Beleidigungen und Erniedrigungen, die an mir nur vorbeigeschwebt und abgeklatscht sind, ihr furchtbar zugesetzt haben. Und dass so ihre Gefühle für mich immer wieder durcheinander geraten sind.
    Also habe ich mich bemüht, ein erwachsenes Gesicht zu machen. Das war ziemlich schwierig, aber ich glaube, es hat funktioniert. Und dann habe ich sie gefragt, was man denn so tut, wenn man normal ist. Sie hat sofort eine Antwort gewusst­. Wenn man normal ist, hat sie gesagt, klettert man zum Beispiel nicht bei Schneefall und Eiseskälte an die Spitze eines Baumes, um sich im Wind zu schaukeln. »Und was noch?«, habe ich gefragt, weil ich geglaubt habe, ihr fällt so rasch nichts mehr ein, und sie hat gesagt, dass man, wenn man normal ist, nicht versucht, Hühnereier auszubrüten. Dass man, wenn man normal ist, nicht direkt vom Euter einer Kuh saugt. Dass man, wenn man normal ist, nicht mit rasendem Anlauf vom Stadeldach springt, weil man glaubt, fliegen zu können dank des starken Windes, und als Tragflächen vier Hendln benutzt, die beim Sturz nach unten panisch mit den Flügeln schlagen und kreischen wie am Spieß, zwei in der rechten und zwei in der linken Hand. Und dass man, an dieser Stelle hat Silvia ein Pause gemacht, als zögere sie, das Beispiel, das sie im Kopf gehabt hat, auch wirklich auszusprechen, dass man, wenn man normal ist, auch nicht ausprobiert, wie es ist, aus dem Sautrog zu essen, und auch nicht tagelang wie die Rindviecher nur Stroh futtert.
    Die beiden letzten Dinge, das mit dem Sautrog und das mit dem Stroh, waren mir ein bisschen peinlich. Keine Ahnung, wer ihr das erzählt hat. Gott sei Dank hat sie nichts von meinen Versuchen gewusst, zu kacken wie die Vögel, von den Bäumen herunter. Was meinst du? Nein, von der Sache mit dem Misthaufen hat sie auch nichts mitbekommen. Auf jeden Fall habe ich versucht, ein kluges Gesicht zu machen. Lach nicht! Ja, ja, ich habe wahrscheinlich komisch ausgeschaut, beim Klugdreinschauen. Aber das tun alle, die das versuchen. Auf jeden Fall habe ich ihr fest in die Augen geschaut und gesagt: »Aber Silvia, wenn ich anfange nur noch normal zu sein, dann bin ich ja irgendwann einmal so wie alle anderen. Dann mache ich irgendwann einmal nur noch das, was ich soll, und nicht das, was ich will. Den anderen geht es jetzt schon so. Um nur ja nicht aufzufallen, haben sie ihren Willen aufgegeben. Und zwar wegen der anderen anderen. Und die wiederum wegen der anderen anderen.« Daraufhin hat Silvia gezwinkert, als sei ihr das zu kompliziert gewesen.
    »Weißt du, Silvia«, habe ich gesagt, »was ich tue, halten die meisten für verrückt. Aber doch nur, weil sie es nicht verstehen. Und was ihr Gespött betrifft, Silvia: Vielleicht bin ich ja wirklich ein Narr, aber ich bin glücklich. Andere sind das nicht. Sie rackern und schuften und trösten sich damit, dass es ihnen dafür irgendwann einmal besser geht. Sie heben sich ihr Leben auf, Silvia! Und sie schaffen Dinge zur Seite für eine spätere Zeit, die für sie nie kommen wird. Sie legen Münze auf Münze und merken nicht, dass sie dadurch vergeuden, was sie haben könnten:

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