Milchblume
hatten aufgehört, leise aneinander zu klacken. Der Großvater schien bitter zu lächeln, so, als habe er alles kommen sehen.
»Du bist alt genug!«, bellte der Bauer und befreite sich damit von einem ungeahnten Gefühl, von dem er meinte, es jetzt überhaupt nicht brauchen zu können. »Mutter und ich haben es so entschieden!«, schrie er mit möglichst viel Zorn in der Stimme. »Und damit ist es so!« Dann schlug er seine flache Hand auf die Tischplatte, weil, wie so oft in seinem Leben, alles unsäglich schwierig war. Hans und Fritz hatten sicherheitshalber aufgehört, einander anzugrinsen. Silvia rannte aus der Stube. Die Großmutter krächzte eines ihrer dezentesten »Mmm«.
Am nächsten Tag war Wintersonnwende. Am Abend hockten wie immer alle in der Küche. Diesmal aber waren die Bauersleute noch maulfauler als sonst. Das lag am unguten, ja beklemmenden Gefühl, das alle befallen hatte, wegen Jakob. Es war nicht üblich, das eigene Kind vom Hof zu jagen, um es bei einem anderen Bauern in Lohnarbeit zu schicken. Ganz und gar nicht üblich. Das wusste auch Jakob. Und die anderen ahnten, dass er es wusste. Und so wartete zu Beginn dieser längsten Nacht des Jahres jeder darauf, ob die Sache noch eine Wendung nehmen würde, ob irgendjemand den Mund auftun würde. Doch in den Köpfen dieses Abends waren nur Überlegungen, die keine rechte Form finden wollten, war nur ein Durcheinander, das sich nicht in Worte gießen ließ, war nur ärgerliches Rauschen, in dem kein Gedanke auch nur irgendwo Halt zu finden schien. Beklemmend war es in der Stube, irgendwie auch viel zu warm, eng, und ausweglos. Als sich die Stille so sehr aufgeladen hatte, dass sie unmöglich mehr zu ertragen war, bewegte der Seifritz-Großvater eine Lippe von der anderen. Sieben Augenpaare fixierten ihn.
»Friert es am kürzesten Tag, wird das Korn billig.«
So groß die Enttäuschung über diese dürre Bauernregel auch war, sie verschaffte Erleichterung. Ähnlich einem Windhauch bei großer Schwüle. Anstatt des ersehnten reinigenden Gewitters.
»Das reimt sich ja nicht einmal«, bemerkte die Großmutter und formulierte nach kurzem Nachdenken: »Friert es am kürzesten Tag im Jahr, ist es Weihnachten hell und klar.«
»Und das Korn wird billig«, sagte der Großvater.
***
Mein Vater, der Seifritz-Bauer, hat mich an den Huber-Bauern verkauft, haben die Leute gesagt. Damit haben sie gemeint, dass die vierzig Schilling Lohn, die mir als Knecht vom Huber-Bauern im Monat zugestanden sind, direkt in die Hosentaschen meines Vaters gewandert sind. Aber das war schon in Ordnung. Ich habe ja nach wie vor freies Logis gehabt am Hof.
Andere haben so getan, als würden sie noch mehr wissen: Dass mein Vater bis vor Kurzem vom Pfarrer jedes Monat zwanzig Schilling Erziehungsgeld gekriegt habe, weil ich zu den Schwererziehbaren gehörte und weil es für Eltern eine besondere Plage sei mit einem wie mir. Und dass ich zudem auch noch behindert sei, das müsse ja abgegolten werden. Die zwanzig Schilling habe mein Vater vom Pfarrer aber nur unter der Bedingung bekommen, dass ich mich ordentlich benehme und er aus mir einen braven Christenmenschen mache, haben die Leute gesagt. Ein braver Christenmensch ist, glaub ich, nicht aus mir geworden. In die Kirche gehe ich zwar manchmal, aber ich bin nicht sicher, ob der liebe Gott gehen würde, bei so einem Pfarrer. Und ich fürchte, so etwas denkt man nicht als braver Christenmensch. Aber zumindest hat mich mein Vater für die Arbeit am Feld und im Wald gut abgerichtet, finden die Leute. Da gibt’s nix, sagen sie, arbeiten tue ich brav. Und das, obwohl die meisten, wenn sie mich zum ersten Mal sehen, keine großen Erwartungen in mich setzen. Zum Beispiel der Bischof, der einmal mit dem Pfarrer bei uns vorbeigeschaut hat. Er hat mich gleich für das gehalten, was ich für alle anderen längst war, nämlich ein zurückgebliebener Depp. »Um Gotteslohn ziehen diese Eltern den Buben auf«, hat der Herr Pfarrer damals gesagt zum Herrn Bischof, und der hat mitleidig genickt und ist dann rasch wieder gegangen. Zu dieser Zeit muss es besonders schlimm mit mir gewesen sein, denn damals hätte mich mein Vater am liebsten verschenkt, sagen die Leute, aber es hat sich niemand gefunden. Und gestorben bin ich halt auch nicht, obwohl ich vom Heuschober gefallen bin, Unkrautvernichtungsmittel in mich hineingestopft habe, und einmal hatte ich sogar die schwarzen Blattern. Damals ist es angeblich so schlimm um mich gestanden, dass
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