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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Farbe, und ihre Haut schien so weich, dass Jakob danach greifen wollte. Tiefe Falten durchliefen ihr Gesicht, die waren so schön anzusehen und so regelmäßig, als hätte ein Wasserfall sie gemalt im Laufe ihres Lebens. Ihr silbriggraues Haar schien nimmer endend, fiel tief über ihre Schultern. Über die hatte sie einen dicken, schwarzen Stoff geworfen. Zudem trug sie ein schwarzes Kleid, schäbig und zerfranst, unter dem lugten ihre knochigen Füße hervor, sonnenbraun und ledern.
    »Wo bist du so lange gewesen?«, fragte Jakob leise und sah sie an.
    »Du hast zwei Tage und zwei Nächte durchgeschlafen«, antwortete sie mit kratzig-freundlicher Altweiberstimme, und ihre dunklen Augen lachten.
    »Nein«, schüttelte Jakob den Kopf, »ich meine, wo warst du mein ganzes Leben lang? Warum hast du dich von mir getrennt?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir, wenn du wieder gesund bist, und stark genug.«
    Jakob schien nachzudenken. »Gut«, sagte er schließlich. »Und wie hast du mich gefunden, mitten im Eigenwald?«
    Die Augen der Alten funkelten. »Ein Eichelhäher war es, er hat dich gemeldet«, sagte sie. »Ich bin vom Bach gekommen, trug zwei Beutel frisches Wasser bei mir, da flog er mit seinem Gekrächze über mich hinweg. Ich beobachtete ihn in seinem unruhigen Flug. Eitel flog er, recht wendig und geschickt, zwischen den Bäumen hindurch und zeigte mir sein schwarz-weiß und hellblau gestreiftes Kleid. Ich dankte ihm mit einem Blick, und weil er seine Aufgabe erfüllt hatte, ließ er sein Krächzen in einen plaudernden Gesang übergehen.« Die Silberhaarige hielt inne, forschte in Jakobs Gesicht. Sie saß auf einem Holzstumpf, die Hände ruhig auf ihren Knien. »Erzähl mir«, setzte sie nach einer Weile ein, »erzähl mir, was hat dich so tief in den Wald getrieben?«
    Jakob schmunzelte und verwendete die Worte, mit denen sie zuvor ihn vertröstet hatte: »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir, wenn ich wieder gesund bin und stark genug.«
    Da wurden die Augen der Alten groß vor Heiterkeit, und gleich darauf konnte sie sich nicht mehr halten, schlug sich auf die Schenkel und sprang schließlich umher wie ein übermütiges Kind. »Das ist mein Lausbub!«, rief sie. »Das ist mein Jakob!«
    Als sie sich beruhigt hatte, nahm sie wieder ihren Platz ein, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und bestand mit plötzlich fester Stimme darauf, dass Jakob seinen Widerstand aufgab und ihr gefälligst erzählen solle, was ihn in den Wald hatte flüchten lassen. Mehr noch. Sie bestand darauf, dass er ihr alles von sich erzähle. Vorher würde er von ihr keine Silbe hören, nicht eine.
    Jakob sah in ihr Gesicht. »Warum?«
    »Das ist eine sehr gute Frage, Jakob. Warum, das ist die wichtigste Frage überhaupt. Nichts was geschieht in dieser von Menschen geprägten Welt darfst du als gegeben hinnehmen, sobald es dir nicht richtig erscheint, sobald sich dein Gefühl oder dein Verstand dagegen wehren.«
    »Gut«, sagte Jakob, zufrieden, und versuchte, seine Gesichtszüge souverän aussehen zu lassen. »Gut«, wiederholte er. »Und warum muss ich nun beginnen zu erzählen, und nicht du? Warum?«
    Sie lächelte. Ein ruhiges, stolzes Lächeln. Ihres Enkels wegen. »Weil ich deine Lehrerin bin, Jakob«, sagte sie dann. Die Wirkung ihrer Worte beobachtend, saß sie da. Ein Funke Überraschung war in seinen Augen. Als er erloschen war, fuhr sie fort. »Um dich gut unterweisen zu können, muss ich zuvor deine Geschichte kennen, muss ich wissen, was dein Verstand und dein Herz erlebt haben. Nur das gibt mir die Möglichkeit, dich in der richtigen Art zu lehren.«
    Jakob wollte schon nicken, da kam ihm der Gedanke, seine Großmutter könnte von ihm erwarten, dass er nicht allzu rasch nachgab. Mit Genugtuung hatte er bemerkt, dass ihn seine Einwände und Fragen interessant gemacht hatten. Nur deshalb, und nur, um noch mehr von diesem stolzen Augenlicht zu bekommen, sagte er: »Aber ich will doch vorerst nur, dass du mir unsere Geschichte erzählst, dass du mir sagst, wieso wir so lange voneinander getrennt waren. Du brauchst ja nicht gleich damit anfangen, mich zu lehren, erzähl mir einfach.«
    »Jakob«, sagte die Alte, »erzählen ist Lehren. Es ist sogar die zweithöchste Art des Lehrens. Darüber steht nur eine einzige andere Methode: das Leben selbst, das Tun.«
    Er sah sie lange an, dann nickte er.
    »Gut, Großmutter.«
    Jakob sprach lange. Er erzählte vom Leben am Seifritz-Hof, von

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