Milchblume
der Geruch, dem er nachspürte, der Geruch, der so deutlich in der Luft lag und ihn förmlich umfing.
Mit dem Knistern und Knacken des trockenen Holzes gewann der raunende Gesang der Alten an Intensität, schwoll an, heiter und doch schwer. Jakob bildete sich ein, er kenne das Lied. Als er darüber nachdachte, merkte er, dass er keine einzige Silbe des Textes verstand, obgleich die Wörter vertraut klangen und auch der melancholische Klang, ja, und die so eindringliche, die so ergreifende Melodie. Diese Melodie, diese Melodie, überlegte Jakob, da kam ein Hauch von Erinnerung, kam eine Ahnung, ein Impuls und gleich darauf ein Stoß. Der ließ sein Herz erdröhnen. Wild pochte es nun, hetzte, flog. Jakob spürte es reißen und zerren. In diesem Moment legte sich die zweite Hand der Alten auf seine Brust. Federleicht schwebten ihre Finger auf seinem Herzen, einer warmen Daunendecke gleich. Ihr Handballen aber war resolut, drückte fest sein Brustbein nieder. So spürte Jakob sein wildes Herz noch mehr. Und da geschah es, da schlug eine Welle der Erinnerung in ihm hoch, überflutete ihn, drang in ihn, ergoss sich in die allerletzten Winkel. Tiefe, uferlose Freude. Die Rührung und die Dankbarkeit darüber machten, dass unter der flachen Hand der Alten Tränen hervortraten, salzig und warm.
Jakobs Großmutter lächelte. Und dann sah sie zum Himmel, nun gewiss, dass Jakob sich erinnerte.
Er griff nach der Hand auf seinem Herzen. Drückte sie, hielt sie fest. Mit der anderen strich Jakob über das Fell, auf das er gebettet war, befühlte es und ließ seine Hand auf ihm ruhen. Natürlich! Das war der Geruch, den er von Beginn an wahrgenommen hatte. Der Geruch seiner frühesten Kindheit war es. Der Geruch nach Wild, nach Kraft und rauer Schwere. Es war: der Geruch des Bärenfells. Und nun trat auch das passende Bild in Jakobs Geist. Er war ein kleiner Bub, und er ritt, ja er ritt auf dem alten, abgetakelten, beinahe blinden Zirkusbären, dem seine Großmutter das Gnadenbrot gewährte, und den sie an der Leine führte, während sie ihren kleinen Enkel, der sich ins Fell des Bären krallte, schützend am Kragen hielt. Nur beiläufig tat sie das, nur so luftig, dass der Knirps davon nichts merkte. Schließlich war er ein Zigeunerbub, und die verlangten nach Selbständigkeit, nach zügelloser Freiheit. Und sei es hin und wieder auch nur die Freiheit, nach einem Sturz heulend gerannt zu kommen, um sich zu verkriechen, in den Rockschoß der Großmutter.
Jetzt tauchten mit einem Mal weitere Bilder aus Jakobs frühester Kindheit auf, jetzt schien die Schleuse, diese lang versperrte, verstopfte Schleuse zur Erinnerung freigeschwemmt, jetzt plötzlich schossen längst vergangene Szenen durch seinen Kopf. Und in all diesen Szenen war es die Großmutter, die die wichtigste Rolle innehatte. Jakob sah hohes, emporzüngelndes Feuer, um das sie wild springend tanzte, geheimnisvolle, kehlige Laute ausstoßend. Langstielige Kräuter hielt sie in die Flammen, ließ sie glimmend, rauchend, funkensprühend über die Köpfe der anderen sausen. Die hockten im Kreis ums Feuer und summten und klatschten dazu. Jakob sah sich aber auch hoch oben auf den Schultern der Großmutter, sah sich über wilde Wiesen schweben, den Vögeln entgegen und in den Himmel tauchend. Er erinnerte sich an ihr lachendes Gesicht und an die Baumkrone, in die sie sich emporgeschwungen hatten, er auf ihrem Rücken, sicher ins Tragetuch gezurrt. All diese Erinnerungen erwachten in Jakob.
Die flache Hand der Alten lag noch immer auf seinen Augen. Blieb dort, ruhig und sicher. Erst später, erst als Jakobs Wangen getrocknet waren und seine Hand langsam den Griff um jene der Großmutter lockerte, erst da löste auch sie sachte ihre Hand, hob sie weg von seinem Gesicht und schenkte Jakob Licht. Es blendete ihn, doch irgendwie, das fühlte er, war das gut so. Er fühlte sich wie neu geboren, einmal noch.
Sonnenlicht fiel in Streifen zwischen den Baumstämmen hindurch. Jakob blinzelte, kniff die Augen zusammen, das Aussehen der alten Frau zu erforschen, der alten Frau, die dicht neben ihm hockte, und von der er jetzt ganz sicher war, dass sie seine Großmutter war. Zuerst erkannte er nur die Konturen ihres Körpers. Hager war sie und klein gewachsen, doch sie schien drahtig, ja kräftig. Ihr Körper erinnerte ihn an den eigenen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, begann er ihr Gesicht zu entdecken. Hohes Alter verriet es, doch war es von erstaunlich gesunder
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