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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Äste auf dem Weg zertritt. Ich habe ertappt zu Boden geschaut und ihr gestanden, dass ich nichts gelernt hätte, nichts, und dass ich keinen Schimmer hätte, was sie da gemacht habe, in »ihrem Garten«.
    »Das habe ich mir schon gedacht«, hat sie geantwortet und ihre Augen haben getanzt. »Du brauchst dir deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen«, hat sie mich getröstet. Solange ich nicht verstehe, was ein anderer tut, sei das keine Schande, hat sie gesagt und mir dabei tief in die Augen geschaut. Armselig wäre es nur, wenn ich nichts, aber auch wirklich nichts verstünde und allein deshalb mutmaßte, dass das Getane Unsinn sei oder verrückt. Wieder habe ich den Kopf gesenkt. Und sie hat aufmunternd gesagt: »Siehst du, jetzt hast du ja doch was gelernt.« Ich habe sie gebeten, mir die Sache mit ihrem Garten zu erklären. Zu meiner Überraschung hat sie das nicht abgelehnt, sondern gesagt: »Die sechs Dinge – der Schöpflöffel, der Kittel und die vier Töpfe –, die für dich keinen Sinn ergeben, das sind die Blumen meines Gartens. Es sind auch meine Gehilfen. Sie helfen mir, mein kümmerlich enges Bewusstsein abzustecken, während ich auf Reise gehe und meine kleine, gewohnte Welt verlasse, um so lange und so weit zu gehen, bis ich schließlich am entferntest möglichen Punkt angelangt bin. Bei mir selbst. Hast du bemerkt, dass mein Garten aus zwei Teilen bestanden hat? Zwei Schritten?« Ich habe den Kopf schütteln müssen. »Mein Garten«, hat sie gesagt, »bestand aus Überlegung und Instinkt. In meiner Reise habe ich beides zusammengeführt. Verstehst du?« Wieder habe ich den Kopf geschüttelt und dann gegen den Gedanken angekämpft, dass sie vielleicht doch übergeschnappt sei, und genauso verrückt wie ich. »Auch du«, hat sie mich zumindest kurz von meinen Überlegungen erlöst, »auch du wirst einmal deinen Garten haben. Und auch du wirst deine Reise antreten. Dann wird es dein Geist sein, der zur Quelle zurückkehrt.«
    »Hast du keinen Hunger?«, habe ich meine Großmutter gefragt, um von diesem Garten- und Quellenzeug abzulenken, das für mich überhaupt keinen Sinn ergeben hat und das in meinen Ohren geklungen hat wie das Geschwätz einer alten Hexe. Meine Großmutter hat gelacht und gesagt, dass ich mich nicht schämen müsse, wenn ich nichts verstanden hätte. Auch nicht für meine Gedanken. Heute Nacht würde sie mir erzählen, worum ich sie gebeten habe. Heute Nacht, hat sie gesagt, würde sie mir meine und ihre, würde sie mir unsere Geschichte erzählen. Dann würde ich beginnen zu verstehen.
    Nach diesen Worten hat sie sich zu ihrem Baum gesetzt, hat die Arme verschränkt, die Augen geschlossen und dann genauso versteinert gewirkt wie der granitene Restling neben ihr. Erst viel später, erst als die Nacht in den Wald gesunken ist, hat sie sich gerührt, ist hergekommen zu mir und hat sich dicht neben mich gehockt.

16.
    J akob betrachtete seine Großmutter. Obgleich nur der wolkenverhangene Mond und die Sterne Licht in den Eigenwald warfen, glaubte er zu bemerken, dass ihr Blick an Klarheit eingebüßt hatte. Haltlos war er jetzt, schien durch Jakob hindurchzugehen, ihn zu durchdringen wie Wasser lockeres Erdreich, irgendwie seinem Ziel zustrebend, doch gleichgültig auf welchem Weg. Lange Momente vergingen so. Jakob frös­telte plötzlich. Still war der Wald.
    Dann gewann ihr Blick wieder Festigkeit. Ihre Pupillen weiteten sich, ganz so, als wäre es früh am Morgen und sie eben erwacht. Als sie begann, nach all den Tagen Jakob endlich ihre gemeinsame Geschichte preiszugeben, strahlte sie für ihn wieder jene Gegenwärtigkeit aus, die ihm Sicherheit gab, blitzte aus ihren Augen wieder Stärke. Mit ruhiger Stimme sprach sie die ersten Worte.
    »Seit dem Tag, Jakob, seit dem Tag, an dem sie dich uns weggenommen haben, habe ich nicht aufhören können, Gedanken über dich in mir zu sammeln. Überlebt habe ich das nur, weil mir Gott – zum Trost, dass er mich noch nicht bei sich wollte – neue Kraft geschenkt hat, jeden Tag mehr. Du warst drei Jahre alt, als die Gendarmen an die Tür unseres Wohnwagens geschlagen haben. Ein ängstlicher, kleiner Mann mit Schnauzbärtchen hat seinen Sozialamts-Ausweis hergezeigt und einen behördlichen Beschluss mit irgendeinem Stempel. Beides hat er so rasch und hektisch wieder unter seiner Jacke verborgen, als sei ihm sein Handeln selbst nicht ganz koscher, als wolle er das, was gerade geschieht, nur möglichst rasch hinter sich bringen, damit

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