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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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noch eine Decke über und sagte dann: »Es dauert nicht mehr lange, bis ich dir erzähle. Du kannst dich darauf einrichten, dass es nicht am Tag sein wird, sondern bei Nacht. Weißt du, im Dunkel der Nacht lässt sich leichter reden. Im Dunkeln gibt es nur die Stimme, und Tränen werden unsichtbar.«
    ***
    Es war, glaube ich, in meiner dritten Nacht im Eigenwald. Da hat meine Großmutter endlich zu erzählen begonnen. Davor hat sie den ganzen Abend kein Wort geredet, hat nicht reagiert auf meine Fragen. Mit geschlossenen Augen ist sie bei ihrem Baum gehockt, den Rücken gegen den Stamm gelehnt, und hat sich nicht gerührt. Wenn nicht alle heiligen drei Zeiten ein wilder Atemstoß aus ihr gefahren wäre, hätte ich glauben müssen, sie sei im Sitzen gestorben.
    Ihr merkwürdiges Verhalten hat schon in der Früh begonnen. Kaum ist das erste Sonnenlicht auf den Waldboden gefallen, ist sie aufgesprungen und hat gesagt, dass sie jetzt in ihren Garten gehe und dass ich sie nicht stören solle. »In deinen Garten?«, habe ich gefragt, »In welchen Garten?« Sie hat nicht geantwortet, hat nur mit strengem Blick wiederholt, dass ich sie auf keinen Fall stören dürfe, in ihrem Garten. Ich habe gefürchtet, mein Auftauchen nach den vielen Jahren habe sie verrückt werden lassen.
    Ohne sich um mich zu kümmern, hat sie ein mit allerlei Gegenständen gefülltes Tuch geschnappt, das an den Zipfeln zusammengeknotet war, hat es sich über die Schulter geworfen und ist barfuß davongegangen. Ich hab’s freilich nicht ausgehalten, einfach zu warten. Also bin ich ihr in einigem Abstand gefolgt. Sie ist so rasch gegangen, ist so wendig über Stock und Stein gesprungen, dass ich Mühe gehabt habe, mitzuhalten. Nach vielleicht fünfhundert Schritten habe ich schon geglaubt, ich hätte sie verloren. Mit einem Mal bin ich alleine dagestanden, mitten im Wald, und habe mich auf einen Schlag verlassen gefühlt. Zuvor ist sie ja auch nicht wirklich bei mir gewesen, aber schon dass ich sie gesehen habe, hat genügt, um nicht einsam zu sein. Ich habe gespürt, wie die Verzweiflung in mir aufsteigt, da habe ich sie plötzlich wieder sehen können. Zwischen zwei mächtigen, hoch in den Himmel ragenden Föhren habe ich sie bemerkt. Am liebsten wäre ich zu ihr gelaufen. Aber ich habe nur erleichtert durchgeschnauft, mich geduckt und dann flach auf den Bauch gelegt. Alles war wieder gut.
    In einer breiten, sanften Mulde hat sie sich niedergekauert und mit bedächtigen Bewegungen ihr Tuch aufgeknüpft. Vier ellenbogenlange Pflöcke waren darin, mit denen ist sie in die Mitte des moosigen Platzes gegangen, hat kurz zum Himmel geschaut, und dann die Pflöcke ins Moos gestoßen. So ist ein Rechteck entstanden, das hat sie mit einer Schnur verbunden. Danach hat sie noch sechs Dinge aus ihrem Tuch gezogen: zwei blaue und zwei rote vom Rost zerfressene alte Töpfe, einen roten Emailschöpflöffel und einen zerrissenen blauen Arbeitskittel. Diese Habseligkeiten hat sie in ihre Arme gerafft und ist dann mit ihnen, wie wild, rund um ihr Viereck gesprungen. Sie hat sich um die eigene Achse gedreht, hat abwechselnd das eine und dann das andere Bein eng zum Körper gezogen, hat den Kopf auf und ab geworfen, und ich war sicher, dass sie jetzt wahrhaftig auf dem besten Weg ist, überzuschnappen. Oje, habe ich gedacht, das liegt bei uns in der Familie.
    Schließlich hat sie die sechs Gegenstände rund um die gespannte Schnur platziert, ist mit einem Satz ins Innere des Vierecks gehüpft, hat sich, mit dem Rücken zu mir, im Schneidersitz hingehockt und dann – hat sie sich nicht mehr gerührt. Keinen Millimeter. Nach vielleicht fünf Stunden ist es mir zu langweilig geworden. Außerdem habe ich furchtbaren Hunger gehabt. Und Durst. Also bin ich zurück.
    Sie ist erst gekommen, als es gedämmert hat. Sie hat mich nicht begrüßt, hat nur gefragt: »Was hast du gelernt?« Ich habe nicht gewusst, was sie meinte. Was ich gelernt hätte, während ich sie stundenlang beobachtet habe in ihrem Garten, hat sie in so selbstverständlichem Ton gefragt, als müsse es ja wohl auch für mich sonnenklar sein, dass ihr meine Gegenwart nicht verborgen geblieben sei. Was ich also gelernt hätte, bis mein Magen so laut geknurrt habe, dass die Eichkätzchen davon erschrocken seien. Was ich gelernt hätte, hat sie es genossen, mich noch einmal zu fragen, bis ich schließlich zurückgeschlichen sei zum Bau wie ein hungriger, junger Wolf, der sich verrät, weil er tollpatschig dürre

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