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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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den dortigen Großeltern und Eltern, von Hans, von Fritz, und er redete, mit geröteten Wangen, von Silvia. Er berichtete auch vom Pfarrer und vom Bürgermeister, von den Nachbarn. Er erzählte von der Arbeit am Hof, auf den Feldern und im Wald, der Schufterei, tagein, tagaus, berichtete von den wunderbaren Gedanken, die oft in seinem Kopf herumwirbelten und gegen die Schädeldecke klatschten, weil es ihnen viel zu eng war da drinnen, und er sie deshalb von Zeit zu Zeit hinaus lassen musste, in die Welt, was ihm einen zweifelhaften Ruf eingetragen habe. Jakob wälzte sich auf seinem Lager hin und her, nahm einmal diese, dann wieder eine andere Stellung ein, je nachdem, wie es gerade bequem für ihn war, und dann sprudelte es erneut aus ihm. Er erzählte davon, wie sehr er es mochte, in den Himmel zu sehen, die Wolken bei ihrer Wanderung zu beobachten, das Gras zu riechen, durch den Wald zu streifen, das Fell und das Gefieder der Tiere zu berühren, Schneeflocken zu fangen, Regen zu kosten, in den Teich zu springen, auf Bäume zu klettern, zu kreischen, zu schreien und zu bellen vor Freude. Jakob verriet der Großmutter aber auch die traurigen Seiten seines Lebens. Er sprach von den Schlägen, die er oft abbekam, und von den Gemeinheiten der Menschen.
    Die Alte hockte währenddessen nur da, auf dem Waldboden, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, die Beine unter ihrem schweren Rock versteckt, die Hände auf den Knien, und rührte sich nicht. Ihren aufmerksamen Blick hielt sie fest auf das Gesicht ihres Enkels geheftet. Neben ihn hatte sie einen Wasserbeutel gelegt und einen Korb platziert, mit Früchten, Kräutern sowie am Feuer gedünsteten Schwammerln und dünn geschnittenen, knusprig gebratenen Stückchen Eichkätzchenfleisch. Jakob griff immer wieder danach, tat Schluck um Schluck, und ohne es so recht zu bemerken, vertilgte er während des Erzählens und Nachdenkens und Dahinplauderns den gesamten Essensvorrat und leerte den Beutel bis zum letzten Tropfen.
    Mittlerweile hatte die Sonne an Kraft eingebüßt. Langsam drehte ihr die Erde den Rücken zu, und so verlor der Eigenwald beständig an Licht, färbte sich die Luft über den Wipfeln gelb und rötlich und rot, und schließlich brach Dunkelheit herein.
    Jakob schien vorerst einmal leer geredet. Zum ersten Mal seit Stunden wusste er nicht mehr so recht, was er erzählen sollte, außerdem spürte er erstmals seit seinem Erwachen Schmerzen. Mit verzerrtem Gesicht griff er sich an die Schläfe.
    »Die Wirkung der Wurzel lässt nach«, sagte die Alte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Wunde wird bald verheilen, und auch deine Schulter bekommen wir wieder hin.« Ansatzlos stand sie aus der Hocke auf, ganz so, als sei sie keine gichtgeprüfte Greisin, sondern ein junges Ding, tat ein paar Schritte und dann einen gezielten Griff nach einem der kleinen Lederbeutel, die aufgefädelt an einem Ast hingen. Als sie ihren knochigen Zeigefinger aus dem Leder zog, klebte eine harzähnliche Masse dick an ihm. Ohne viel Aufhebens trat die Alte neben den Burschen und schmierte die harzige Paste auf die Schusswunde an seiner Stirn.
    Jakob sah sich um. Das Dunkel der Nacht hatte bereits die Körper der Bäume geschluckt und ebenso die mannshohen Restlinge aus Granit, die, im Halbkreis wie von Riesenhand hingewürfelt, dem kleinen Platz seine Form verliehen. Auch vom windschiefen Verschlag, den sich die Alte aus Baumstämmen und Ästen gezimmert hatte, und dessen Dach über und über mit Moos bewachsen war, konnte Jakob nur die Konturen erahnen. Gleich daneben erkannte er gerade noch die zeltähnliche, aus Fichtenwipfeln zu einem Kegel ver­spreizte Behausung. Und weil die Alte keinerlei Anstalten machte, Holz nachzulegen, wurde auch die letzte Lichtquelle, der schwache Schein des Feuers, immer unsteter, unscheinbarer, gloste schließlich nur noch, glühte nach und verging. Tiefschwarz war nun die Nacht.
    »Großmutter«, sagte Jakob in die Stille, »Großmutter, bitte erzähl mir, was geschehen ist.«
    »Schlaf jetzt. Du musst dich erholen. Morgen untertags wirst es noch einmal du sein, der mir erzählt. Ruhig alles noch einmal. Das schadet nicht, denn jede Geschichte hat viele Seiten, und erst so treten sie zu Tage.«
    »Und wann wirst du mir erzählen?«, fragte Jakob, rollte sich auf seiner weichen Bettstatt aus aufgeschichteten Zweigen zusammen und zog die grobe Pferdedecke bis zum Kinn. Die Alte antwortete nicht gleich, warf Jakob mit einer geschickten Bewegung

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