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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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ihr Heiliges, ihr Unantastbares, ihr Reich. Sie tat es schlicht und doch mit solcher Kraft, dass alle ihren Entschluss erkannten. Die Tür, die Silvia hinter sich zuzog, war jene, die zu Jakobs Kammer führte.
    ***
    Während mein Körper gestreckt und regungslos tief im Eigenwald gelegen ist, habe ich geträumt. Dabei habe ich etwas Wichtiges gelernt. So bin es diesmal vielleicht ich, der dir etwas erzählen kann, das dir bisher nicht bewusst gewesen ist. Weißt du was: Wir bewirken mehr, als wir glauben. Ja, wirklich, wir unterschätzen unseren Einfluss auf unsere Umgebung! Unser Reden und unser Handeln bewirkt ungeahnt viel. Und zwar immer. Wenn du dir das einmal so richtig klar machst, spürst du, welch riesige Verantwortung du hast. Aber verrückt sollten wir uns deswegen wahrscheinlich auch nicht gleich machen.
    Wie ich auf all das komme? Na hör dir an, was ich ausgelöst habe, als ich geglaubt habe, nichts, wirklich überhaupt nichts, zu tun:
    Während mein Körper tief im Eigenwald gelegen ist, gestreckt und regungslos, hat das Blut, das aus meiner Schulter und meinem Scheitel gesickert ist, den weichen, reisig- und nadelbedeckten Boden genährt.
    Während mein Körper tief im Eigenwald gelegen ist, gestreckt und regungslos, haben Rehe meine Witterung aufgenommen und daraufhin ihre Route geändert.
    Hat meine pure Anwesenheit einen Eichelhäher alarmiert.
    Haben Ameisen damit begonnen, meinen Abtransport zu organisieren.
    Hat mein Kopf den Eingang und meine Schulter den Ausgang vom Bau eines Blatthornkäfers blockiert.
    Hat sich das älteste Lebewesen im Wald aufgemacht, um nach mir zu sehen.
    Während mein Körper gestreckt und regungslos tief im Eigenwald gelegen ist, habe ich aber nicht nur das wie im Traum erfahren. Große Rätsel haben sich vor meinen Augen gelöst. Ganz selbstverständlich und einfach war auf einmal alles. Stell dir vor: Ich habe erfahren, wie Gott denkt. Ich habe erkannt, wie der Tod zum Leben führt, und das Leben zum Tod, habe gesehen, wie alles eins ist. Es war so naheliegend, dass ich mich gewundert habe, nicht schon früher draufgekommen zu sein. In dem Moment habe ich gespürt, alles ist gut. Ewige Ruhe war in mir, und eine alles umfassende Hoffnung. Und das Wunderbarste war: Diese Hoffnung war bereits Gegenwart. Mein Herz ist hoch hinauf gehoben worden, himmelwärts und federleicht. Ich habe Silvia an meiner Seite gesehen, wir haben uns an den Händen gehalten, waren Mann und Frau, waren es immer schon gewesen. All das habe ich bei meinem Tod gesehen. Es war wunderschön.

15.
    Ü ber dem Eigenwald wölbte sich das nächtliche Himmelszelt. Sterne sonder Zahl, tief gestaffelt im unendlichen Raum, schenkten der Erde, obgleich Tausende und Abertausende Lichtjahre entfernt und obwohl womöglich längst verglüht, einen Schimmer, der direkter nicht hätte sein können. Windstill war die Nacht.
    Am nächsten Morgen schien es Jakob, als würde er erwachen. Gänzlich sicher war er sich nicht. Irgendetwas war anders als gewöhnlich, irgendetwas ungewiss. Dann aber wich der Zweifel, flog davon und verschwand. Verschwand, als habe er nie bestanden. So also erwachte Jakob, an diesem Morgen.
    Die Augen zu öffnen vermochte er nicht. Eine Hand lag flach auf seinem Gesicht. Komisch, dachte Jakob, das schreckt mich gar nicht. Er hörte auch eine Stimme. Eine Frauenstimme. Sie sang, nein summte, leise und rau. Und Jakob roch auch etwas, roch einen irgendwie vertrauten Duft, aber was war das? Da war der Geruch der Hand auf seinem Gesicht, der Hand, die sanft und doch beharrlich einen Teil seiner Stirn bedeckte, seine Augen umschloss, seine Wangenknochen und seine Nase. Gut fühlte sie sich an, diese Hand, beschützend, freundlich, wohlgesinnt. Nach Wald roch sie. Nach Zweigen, Rinde und Pech, und nach guter Erde. Aber es war nicht nur diese Hand, die er roch. Da war noch etwas, irgendetwas anderes. Jakob wusste, dass er diesen Geruch kannte, doch es fiel ihm nicht ein woher. Er konnte ihn auch nicht benennen, diesen Geruch. Aber er hatte ja keine Eile. Nein, keine Eile, das fühlte er. Jakob lag bequem, genoss die warme Hand auf seinem Gesicht und mochte das beruhigende Summen, das jetzt langsam in Gesang überging, kehlig-rau und doch so sanft. Ein altes Weib musste es sein, das da sang, dachte er und sog frische Luft in seine Lungen. Rauch stieg in seine Nase und wie zur Bestätigung hörte Jakob Holz knacken. Ein Lagerfeuer. Rauch vom Lagerfeuer. Ja, aber auch das war es nicht, das war nicht

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