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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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ganz Ähnliches zu mir gesagt. Das Leben ist ungewiss, hat sie gemeint, und Verlass ist nie und nirgendwo. Wichtig, hat sie mir eingeschärft, wichtig ist deshalb, sich selbst zu kennen. Kennst du nicht dein wahres Ich, hat sie gesagt, dann kennst du auch nicht deine Bestimmung, deinen Wunsch. Dann bist du Treibholz im Strom und lässt dich lenken, anstatt selbst deinen Weg zu bestimmen.
    Ich jedenfalls habe ein zweites Leben geschenkt bekommen. Das Leben meiner wahren Vorfahren, das Leben, das mir vorenthalten worden ist. Ich weiß noch nicht, wofür ich mich entscheiden werde. Ob ich im Dorf bleibe oder in den Wald gehe, ob ich Zigeuner werde wie meine Ahnen oder nicht. Aber gleich, welches Leben ich um mich wachsen lasse, das Wichtigste ist doch der Kern, und nicht das Drumherum. Nicht das, was jeder sieht, ist das Wichtigste, oder? Entscheidend ist, was darunter steckt, was bleibt. Stimmt’s? Wichtig ist, was Bestand hat.
    Meine Großmutter hat mir erzählt, dass unsere Familie bei ihrer Reise seit Generationen schon in Legg Halt gemacht hat. Die Leute waren immer neugierig auf die Geschichten und die bunten Trödlerwaren, die unter der Plane mitgeführt worden sind. Alle sind sie gelaufen gekommen und haben den Wagen umringt. Wenn sich die Aufregung aber gelegt hat, sind sie so rasch verschwunden, wie sie gekommen sind, dann hat sich keiner mehr blicken lassen beim Lagerplatz am Waldrand. Als kurze Unterhaltung waren ihnen die Zigeuner recht, als Ablenkung vom eintönigen Leben. Zu mehr aber hat ihr Mut nicht gereicht. Das Fremde war ihnen so lange recht, solange es fremd geblieben ist. Zu tief in ihr Leben hat es nicht eindringen sollen, hätte ja einiges durcheinander bringen können. »Dass ihr mir ja nicht zu den Zigeunern geht«, haben die Erwachsenen zu den Kindern gesagt, »die nehmen die Kinder mit.« Ja, das war der Satz, der immer wieder zu hören gewesen ist. »Die Zigeuner nehmen die Kinder mit.« Am Anfang ist der Satz wie im Spaß gesagt worden, nur als Abschreckung für die Kinder. Mit der Zeit aber, als der Satz immer und immer wiederholt worden ist, hat er eine Eigenständigkeit bekommen, und am Schluss hat er sich als gefährliche Wahrheit in die Köpfe der Leute gebrannt. Dementsprechend sind sie mit den Zigeunern umgegangen.
    Die Zigeuner nehmen die Kinder mit. In Wirklichkeit war es dann andersrum. Die Sesshaften haben den Zigeunern die Kinder weggenommen. Und dabei haben sie sich gar nichts Böses gedacht. Ganz im Gegenteil. In meinem Fall haben es anfangs alle gut gefunden, wohltätig, eine herzensgute Sache. Nur einige wenige waren skeptisch. Weil aber sogar der Pfarrer und der Bürgermeister dahinter gestanden sind, haben auch sie nicht mehr lang darüber nachgedacht. Erst als der Pfarrer wegen der tiefen Wunde in seinem Gesicht die heilige Messe hat ausfallen lassen müssen, und erst als die Sache mit meinem Vater und dem Auto vom Bürgermeister passiert ist, erst dann haben ein paar stumm genickt, in der Art, wie man nickt, wenn etwas passiert, was man irgendwie schon immer vorausgeahnt hat, nur nie laut ausgesprochen. Dann haben manche geraunt, dass es sich ja doch rächt, wenn man Eltern ihre Kinder wegnimmt.
    Meine Großmutter hat damals nicht ein und nicht aus gewusst­, ist in ihrer Verzweiflung tief in den Eigenwald hineingegangen. Dort hat sie sich verkrochen und hat nachgedacht bis an ihre Grenzen. Im dritten Winter hat sie dann diesen Traum gehabt. Sie hat geträumt, dass ich zu ihr komme, sobald die Zeit reif ist, sobald ich alt genug bin, um zu verstehen und danach zu handeln. Seit diesem Traum hat meine Großmutter gewusst, dass der Tag kommen wird. Ich muss nur geduldig sein und warten, hat sie sich gesagt. Und dass sie nicht verzweifeln darf und nicht aufgeben, weil sie noch eine wichtige Aufgabe hat im Leben. Diese Aufgabe bin ich.
    Sie sagt, sie will mich alles lehren, was nötig ist. Hat auch schon damit begonnen. Aber, um ehrlich zu sein, ich bin gar nicht sicher, ob ich ein Leben wie sie führen will. Es ist wichtig, seine Vergangenheit zu kennen. Aber die Wahrheit kann auch wehtun, und man muss stark sein dafür. Meine Großmutter ist sich sicher, dass ich stark bin. Sie ist auch sicher, den Grund zu kennen, warum ich manchmal unfähig bin fürs Leben, warum ich mich tot stelle, wenn ich Gewalt erlebe. Es liegt daran, meint sie, dass ich als Kleinkind habe miterleben müssen, wie ich meinen Eltern entrissen worden bin. Daher komme meine Abneigung gegen Gewalt,

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