Milchblume
Herzen. An dir wird es sein, dem Keim Wärme und Kraft zu schenken, aber auch, ihm ausreichend Luft zu lassen. Wenn du das berücksichtigst, Jakob, wird eure Liebe erblühen.«
Ihr Enkel nickte.
»Ich will dir nun sagen, was ich über deine Zukunft denke, Jakob«, sprach die Alte, und Jakob fand, dass sich die samtigen Falten ihres Gesichts bewegten wie die Oberfläche eines Teiches im Wind. »Ich will dir sagen, was sich geändert hat für dich, seit du zu mir in den Wald gefunden hast. Du ahnst es sicher selbst. Aber ich weiß, manches Wissen zerrinnt zwischen den Fingern, sobald man es berührt. Und gewinnt erst feste Gestalt, wenn eine Stimme es benennt.«
Jakob war konzentriert und aufmerksam wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Nun galt es aufzupassen, die sicherlich klugen Ratschläge der Großmutter aufzusaugen, jede Einzelheit davon, um später nur ja keinen Fehler zu begehen, um später, wenn es so weit sein würde, gegenüber Silvia auch sicher alles richtig zu machen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seine Großmutter an.
»Du kennst nun deine Vergangenheit«, begann die Alte, ihre Hände im Schoß. »Also kannst du von nun an deine Gegenwart bestimmen. Bisher war das schwer, denn die Welt um dich hielt dich blind und taub. Dein eigenes Wesen wurde dir schlecht gemacht. Kein Wunder, dass du es schwer hattest. Und sehr wohl ein Wunder, wie prächtig du dich entwickelt, welche Fähigkeiten du dir angeeignet hast. Und welche Natürlichkeit und Liebe in dir steckt. Du brauchst keine Angst zu haben vor deiner Zukunft. Sie ist nun nicht mehr Sache der anderen, sondern die deine. Du allein wirst es sein, der deine Zukunft bestimmt. Du allein mit deinen Absichten. Sie werden dich leiten.«
Jakob saß mit offenem Mund da. Als kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass die Großmutter ihre Ausführungen beendet hatte, als sicher war, dass nichts mehr nachkommen würde, was die Sache womöglich verständlicher und konkreter gemacht hätte, traute er sich erstmals wieder zu schlucken. Verzweiflung stieg in ihm hoch. Die Verzweiflung, etwas womöglich Entscheidendes nicht zu kapieren, daran vorbeizusegeln mit allzu leichtem Geist. Gut, er hatte alles, was sie gesagt hatte, aufgenommen. Das Gesagte schien auch eine innere Logik zu besitzen, war durchaus nachvollziehbar. Allein: Bei seinem konkreten Problem, fand Jakob, half es ihm nicht weiter. Er dachte nicht an das Große und Ganze seines künftigen Lebens. Und wenn er es jetzt doch tat, dann war dieses Große und Ganze keine breite, ausschweifende Sache, sondern auf einen einzigen Nenner zu bringen. Und der hatte einen Namen: Silvia. Was sich Jakob von seiner Großmutter wünschte, war kein philosophisches Bild seiner Zukunft, sondern eine möglichst einfache Anleitung, wie er verflixt noch einmal vorgehen sollte, um Silvia, das Mädchen, das er liebte, zu der Seinen zu machen. Davon war seine Zukunft abhängig, fand er. Nur davon. Von einer entsprechenden rettenden Anleitung aber war nichts zu merken, nein, keine Rede war davon. Nicht die Spur.
Es war nun schon einige Zeit her, dass die Silberhaarige ihre Darlegungen beendet hatte. Jakobs Mund aber stand noch immer offen. Und nach weiteren Minuten, in denen der Trauerschnäpper eine raffinierte Schleife um sie gezogen und sein »bitt-zeck, bitt-zeck« gerufen hatte, sonst aber kein Ton den Wald erfüllte, ja, da stand er noch immer offen, Jakobs Mund.
Die Alte wusste ganz genau, was los war mit ihm, wusste ganz genau, was er sich von ihr erhofft hatte. Doch Anweisungen waren nicht das, was sie ihrem Enkel geben wollte. Damit sollte es vorbei sein. In Jakob steckte mehr als nur die Fähigkeit, nachzuvollziehen, was andere ihm vorbeteten oder anschafften. Beinahe sein ganzes Leben lang war er gehalten worden wie ein törichter Knecht, geist- und herzlos die meiste Zeit. Und dennoch hatte er sich die Gabe bewahrt, zu lachen, zu weinen, selbständig nachzudenken über Dinge, die anderen nicht einmal ansatzweise in den Sinn kamen, über Vorkommnisse, die anderen nicht einmal auffielen. All das war es, was seine Großmutter so sicher machte, dass ihr Enkel seinen Weg gehen würde.
»Und was genau soll ich Silvia sagen?«, fragte Jakob plötzlich, denn er hatte sich sowohl vom Schreck erholt, nicht den erhofften Ablaufplan zur Eroberung eines Mädchenherzens erhalten zu haben, als auch Mut gefasst, die entsprechende Bedienungsanleitung nun geradewegs einzufordern. Kurz schien die Großmutter
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