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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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würde ich dich erst recht nicht behalten können, haben sie gesagt. Und im Heim würde es dir sowieso an nichts fehlen, versuchten sie mich zu beruhigen.«
    Jakobs Aufregung war uferlos. »Du musst dich irren!«, schrie er. »Es muss eine Verwechslung sein«, stotterte es aus ihm, während er sich abmühte, ein wenig Ordnung in seinen Kopf zu bringen. Das alles ergab keinen Sinn, verwirrte Jakob, erklärte nichts, ließ die Situation vollends unübersichtlich geraten. »Ich war in keinem Heim!«, stieß er hervor. »Und mein Vater und meine Mutter leben noch. Es sind der Seifritz-Bauer und die Seifritz-Bäuerin. Ich habe sie erst vor wenigen Tagen verlassen. Das habe ich dir doch schon alles erzählt! Auch meine anderen Großeltern leben noch, der Seifritz-Großvater und die Seifritz-Großmutter.« Seine Stimme kippte. »Und ich, auch ich lebe am Seifritz-Hof, nicht in einem Heim. Ich bin der Seifritz Jakob. Seit ich mich erinnern kann, bin ich das. Seit, seit ich mich, seit …« Plötzliche Hitze stieg in sein Gesicht, drückende Hitze, die ihm Panik verursachte und den Atem nahm. Sein Puls raste. Sein Herz schlug so schnell, als komme es nicht nach damit, ihm Signal zu geben. Und dann war es so weit. Dann hatte auch sein Geist verarbeitet, was sein Herz die längste Zeit seines Lebens wohl schon gefühlt hatte. Jakob musste nichts mehr fragen. Und er musste sich nichts mehr erklären. Als er in die Nacht sah, kannte er die Wahrheit.
    Er wandte sein Gesicht von der Frau ab, die er im Dunkeln nun nicht mehr erkennen konnte, von der er aber wusste, dass sie da war, ganz nahe, bei ihm, für ihn, von nun an und sicher. Es war das Gesicht der silberhaarigen Frau mit den wunderschönen, tiefen Falten, das Gesicht der Frau, die ihn sanft und schützend gehalten hatte, als er als Kleinkind auf dem alten Bären geritten war, es war das Gesicht seiner Großmutter, das Gesicht seiner einzig wahren Großmutter. Tränen der Wehmut und der Erleichterung liefen über Jakobs Wangen. Es zog und zerrte in seinem Herzen. Die Großmutter, seine weiche, starke, faltige Großmutter, sie war die Einzige, die von seiner Familie noch übrig war. Nicht der Seifritz-Bauer, nicht die Seifritz-Bäuerin, niemand aus Legg, von denen er es sein Leben lang fälschlich angenommen hatte. Nur diese Frau, diese alte, kleine, vergessene Frau. Nur sie war seine Familie. Nicht die anderen, die immer böse gewesen waren. Das also, nur das war der Grund gewesen, warum er sich stets so fremd gefühlt hatte in Legg.
    Bei seiner Großmutter, seiner wirklichen Großmutter, hatte er Liebe und Sicherheit gespürt vom ersten Moment an, hatte es von Anfang an gefühlt, und nichts musste bewiesen, erkämpft, erlitten, erarbeitet oder erbettelt werden. Er hatte es gespürt, noch bevor er sie neu kennenlernte, hatte es gewusst, als er sich entschied, zu erwachen, und ihre Hand zu spüren auf seinem Gesicht. Liebe, Geborgenheit, all das gab es mit einem Mal, all das füllte plötzlich jeden Winkel seiner Seele.
    »Danke«, sagte Jakob klar und deutlich, ohne über das Wort nachgedacht zu haben.
    »Gut«, hörte er seine Großmutter antworten.
    In den jüngsten Stunden dieser Nacht war zu viel geschehen, als dass es Jakob möglich gewesen wäre, darüber zu sprechen. Ihn verlangte nach Ruhe, nach Stille. Also sprachen sie nicht mehr in dieser Nacht. Gut war das so. Wichtig war nur, dass sie einander wieder hatten, wichtig war ihre Gegenwart. Ihre Vergangenheit war zu Ende, in dieser Nacht.
    Rücken an Rücken lagen sie, auf ihrer Bettstatt aus aufgeschichteten Fichtenzweigen. Jakob spürte die sanfte Bewegung ihres Körpers, bei jedem Atemzug. Frühmorgens schlief er ein.
    ***
    Seit ich tief in den Eigenwald geraten bin, hat sich mein Leben stärker verändert als all die Jahre zuvor. Stell dir das vor: Du wachst auf und bist ein anderer.
    Ja, du Oberschlauer. Du hast ja recht, ich bin trotzdem noch ich selbst. Aber es kann dir schon schwindlig werden, wenn das, was bisher felsenfest vor deiner Nase gestanden ist, sich mit einem Mal in Luft auflöst; wenn das, was selbstverständlich war, nur Lug und Trug gewesen ist; und wenn du draufkommst, dass rund um dich zerfällt, was dein Leben bestimmt hat. Da kannst du schon ins Grübeln kommen, was übrig bleibt von dir.
    Je sicherer der Mensch sich fühlt, desto wirksamer trifft ihn das Leben? Du mit deinen Sprüchen! Außerdem glaub ich schön langsam, dass du mit meiner Großmutter unter einer Decke steckst. Sie hat was

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