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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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es sich nicht zu tief eingräbt in sein Gewissen und er es auch rasch wieder verdrängen kann aus seinen Erinnerungen. In seinen Augen torkelten Angst und Scham. Doch er wusste wohl, dass das sein Tun nicht entschuldbar machte.
    Auch die Gendarmen hatten Angst. Bang hielten sie deinen Vater und mich mit ihren Pistolen in Schach, während der Mann vom Sozialamt dich mit Hilfe zweier weiterer Gendarmen aus den Armen deiner Mutter riss. Sie wehrte sich dagegen, schlug um sich, schrie, kratzte und biss, attackierte die Gendarmen mit aller Kraft. Der Schuss, der sich aus einer der Pistolen löste, fuhr ihr durchs Herz. Der Beamte vom Sozialamt stürzte panisch mit dir aus dem Wohnwagen, die Handvoll Gendarmen hinterher. Dein Vater schlug einen von ihnen zu Boden, bis er selbst niedergestreckt wurde. Draußen sah ich dann den Bürgermeister und den Pfarrer. Sie standen da wie Zuschauer, die sich eigens die besten Plätze gesichert hatten, denen die bestellte Szene nun aber doch zu ungestüm geworden war. Ich ging zu ihnen und entschied mich für den Pfarrer, dem ich mit einer gehärteten Hahnenklaue über sein Maul fuhr. Ein Blutschwall schoss aus seinem Gesicht. Seine Verblüffung war so groß, dass er anfangs darauf vergaß, vor Schmerzen zu schreien und sich am Boden zu wälzen. Der Bürgermeister war rechtzeitig davongerannt.
    Dein Vater und ich wurden wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angezeigt, all unsere Bemühungen, dich zurückzubekommen, wurden abgeschmettert, es wurde uns mit Gefängnis gedroht, würden wir keine Ruhe geben. Froh sollten wir sein, hat man uns gesagt, froh, dass du es nun besser hättest, weg von der dreckigen, gefährlichen Landstraße, sagten sie, weg von uns Jenischen, uns Zigeunergesindel, meinten sie, und rein in ein gutes, warmes Heim mit gottesfürchtigen Klosterschwestern, sagten sie. Für uns verstrichen tränen- und wutreiche Wochen, an deren Ende dein Vater meinte, nichts mehr ausrichten zu können. Das Leben sei nun unnütz geworden, sagte er. Er wollte nicht mehr weiterleben. Nicht ohne dich und deine Mutter. Er begann zu trinken in jener Zeit, viel zu viel. Damit wurde alles noch schlimmer. Als ich einmal nicht auf ihn achtgab, ging er zum funkelnagelneuen Auto des Bürgermeisters, das der eigens vor dem Wirtshaus abgestellt hatte, damit auch alle neidische Blicke werfen konnten auf seinen lack- und blechgewordenen Stolz. Dein Vater schritt auf das Auto zu und drosch mit einem Vorschlaghammer darauf ein, besonders auf den hinteren Teil der Karosserie. Er schlug die Scheiben und Lichter in Splitter, verbeulte lautstark die hinteren Türen, das Dach, den Kofferraumdeckel. Als die Wirtshaustür aufsprang und der Bürgermeister gemeinsam mit den anderen Männern herausstürmte, schrie dein Vater »Du Scheiß-Mörder, du Kinderverschlepper!«, sprang ins Auto, startete, und dann wurde für die Männer klar, warum er den Vorderteil des Wagens verschont hatte. Der Fuß deines Vaters ging erst wieder vom Gaspedal, als das schwere Auto mit voller Geschwindigkeit gegen einen der Alleebäume krachte. Sein Selbstmord, Jakob, war die verzweifelte Art deines Vaters gewesen, sich am Bürgermeister zu rächen. Es ist die beklagenswert traurige Art deines Vaters gewesen, auch den Einfältigsten und Gutgläubigsten in Legg klar zu machen, welches Unrecht uns angetan worden war.«
    Jakob hatte die Worte seiner Großmutter in sich eindringen lassen. Mit jedem Satz aber war er mehr außer sich geraten. Und schließlich ging das Gehörte derart über seine Kraft, dass sein Geist auszog aus ihm. Jakob glaubte, sich im Abstand weniger Meter, von schräg oben, selbst zuzusehen. Er spürte die Ohren dröhnen vom wilden Schlag seines Herzens. Jakob glaubte zu wissen, dass es seine Großmutter war, die ihm gegenübersaß, doch sein Vater, der Seifritz-Bauer, war nicht tot, gewiss nicht, er war nicht gestorben vor langer Zeit, ebenso wenig seine Mutter, die Seifritz-Bäuerin. Sicher nicht. »Da stimmt was nicht«, stammelte er und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Großmutter, da stimmt was nicht.«
    »Ich habe dann noch ein paar Mal versucht, herauszufinden, wo sie dich hingesteckt haben«, setzte die Alte fort, ohne auf die Verzweiflung ihres Enkels einzugehen. »Ich habe versucht, dich zu mir zu holen, Jakob. Aber die Behörden haben mich immer verjagt, haben mir gedroht, mich einsperren zu lassen wegen der schweren Gesichtsverletzung des Pfarrers, wegen Herumtreiberei und vielem mehr, und dann

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