Milchfieber
gefährlich, befand er, und Allmers hatte ihm Recht gegeben, als sich Hella dafür bei ihm entschuldigen wollte.
Sie sah mittlerweile kaum noch etwas, Personen konnte sie nur noch schemenhaft erkennen. In ihrem Haus und vor allen Dingen in der Küche war ihre Blindheit kaum zu bemerken, da bewegte sie sich sicher und ohne irgendwo anzustoßen konnte sie alle Wege im Haus bewältigen.
Allmers besuchte sie zwei Tage nach der Entlassung.
„Ich habe extra eine Käsesahne, eine Sachertorte und die Korvapuusti gemacht“, sprudelte es aus Hella Köhler heraus, als Allmers in die Küche trat. Sie erkannte ihn schon an der Art, wie er die Klinke der Tür drückte. Seit über zwanzig Jahren kam Allmers regelmäßig mehrmals die Woche auf den Hof der beiden. Wenn er nicht die monatliche Milchkontrolle machte, gab es doch immer frischen Kuchen, Kaffee und die wichtigsten Neuigkeiten aus dem Dorf.
„Dieses finnische Gebäck?“, fragte Allmers, er konnte sich den Namen nicht merken.
„Ja, die „Ohrfeigen“, lachte Hella, „so heißen sie auf Finnisch. Das weiß ich aus der Zeitung“, fügte sie erklärend hinzu, aber Allmers war auch nicht davon ausgegangen, dass sie finnische Kuchennamen übersetzen könne.
Allmers setzte sich auf die Bank, zog die Kaffeekanne zu sich und als er das erste Stück Kuchen auf dem Teller hatte, wusste er, was er wirklich vermisst hatte im Krankenhaus: Den gemütlichen Kaffeeklatsch mit Hella, die nicht aufhören konnte, ihm alles zu erzählen, was ihm in den Wochen der Krankheit entgangen war.
„Kennst du Irene Hintelmann?“, fragte er mit vollem Mund in eine Atempause von Hella.
„Natürlich! Das arme Ding!“
„Wo stammt sie denn her?“, fragte Allmers.
„Sie kommt eigentlich aus Oldendorf. Normalerweise heiratet so eine ja nicht ins Moor, aber Irene war wohl ganz wild auf Jürgen.“
„So ein großer Frauenheld scheint er aber nicht gewesen zu sein“, warf Allmers ein und schnitt die Sachertorte an.
„Das stimmt, umso mehr haben sich alle gewundert, dass Irene so versessen auf ihn war. Sie war nämlich eine ganz schön wilde Hummel.“
Deshalb, dachte Allmers.
„Das hat sie schnell büßen müssen“, meinte Hella voller Mitgefühl.
„Du scheinst wie immer gut informiert zu sein“, meinte Allmers.
„Jürgen Hintelmann“, erzählte Hella Köhler, „war krankhaft eifersüchtig, geizig und hatte einen Kontrollwahn. Irene saß manchmal bei mir in der Küche und hat Rotz und Wasser geheult. Sie hat sich Kuchenrezepte geholt“, erklärte Hella, als sie Allmers fragend die Augenbrauen heben sah. „Wenn sie dann gebacken hat, hat er ihr am Stromzähler nachgerechnet, was das schon wieder gekostet hat. Wenn sie geputzt hat, hat er kontrolliert und ihr dann vorgemacht, wie man es richtig macht. Nach fast zwanzig Ehejahren! Im Winter waren den ganzen Tag die Rollläden unten. Jürgen hatte ausgerechnet, dass es billiger war, ein paar 40 Watt-Funzeln an zu machen, aber dabei Heizöl zu sparen. Manchmal war in der Wohnung ein Mief, der kaum auszuhalten war. Es durfte nämlich nicht gelüftet werden, das war zu teuer. Jetzt nimm doch mal ein Korvapuusti, die schmecken am besten, wenn sie noch warm sind.“
Hella holte Luft.
„Der ist mir ja genau vor die Füße gefallen“, warf Allmers ein. „Ich weiß immer noch nicht, warum er das Gleichgewicht verloren hat.“
„Jürgen hat nicht das Gleichgewicht verloren“, sagte Hella. „Irene war vor ein paar Tagen hier. Da hatten sie ihn gerade beerdigt. Jürgen ist durch den Boden durchgebrochen.“
Allmers wunderte sich. Er hatte bisher immer gedacht, Jürgen hätte an der Luke das Gleichgewicht verloren und sei deshalb auf den Futtertisch gefallen. Er überlegte, dass es tatsächlich eigenartig war, dass kein Ballen Heu oder Stroh mit heruntergefallen war. Zumindest konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er kramte in den Bildern der Erinnerung und war sich schließlich sicher: es war tatsächlich kein Stroh- oder Heubund mit Jürgen Hintelmann hinuntergefallen.
„Jürgen ist oder war“, verbesserte sich Hella, „geizig. Das habe ich dir ja schon erzählt. Das hat dazu geführt, dass er den Boden des Heuspeichers mit alten Munitionskisten repariert hatte.“
„Ich kann es mir denken“, sagte Allmers. „Grauerort“.
„Genau“, meinte Hella. „Noch einen Kaffee?“
Im Heimatkundeunterricht hatte Allmers, es muss in der vierten oder fünften Klasse gewesen sein, bei seinem Lehrer einen unvermittelten
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