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Milchfieber

Milchfieber

Titel: Milchfieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas B. Morgenstern
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selbstgewählten Zölibat in allen Lebenslagen vorzuziehen sei. Nach kurzer Zeit hatten sie fünf Kinder. Dass es alles Mädchen waren, führte zu einer heftigen Ehekrise, aber nach ein paar Jahren hatte sich der Ehemann, der nach dem Studienabbruch in das elterliche Textilunternehmen eingestiegen war, in sein Schicksal gefügt. Rosemarie hatte ihr Biologiestudium unter großen Schwierigkeiten beendet und arbeitete als Lehrerin.
    Nina, die eigentlich Christina hieß, den Namen aber nie mochte, war das erste Kind der Beiden.
    Allmers hatte dem Besuch nicht zu widersprechen gewagt, seine Schwester reagierte auf Widerworte sehr harsch und Allmers tröstete sich noch während des Telefonats damit, dass, sollte der Besuch ein Fiasko sein, er sehr gut in der Lage sei, ein fünfzehnjähriges Mädchen wieder in den Zug nach Stuttgart zu setzen.
    Familie kann wie eine Krankheit sein, dachte Allmers.
    Als sie aus dem Zug stieg, blieb Allmers ruhig. Es kam ihm ein blässliches Mädchen entgegen. Sie sah genauso langweilig aus, wie er es erwartet hatte. Überrascht war er, dass sie nicht wie die meisten ihrer Altersgenossinnen versuchte, ein paar Jahre älter zu erscheinen, Nina kam ungeschminkt, ohne kajalschwarze Augenringe, ohne Tattoos und Piercings den Bahnsteig entlang. Sie trug einen unhandlichen Koffer und Kleidung, die so unauffällig war, dass Allmers sie auch nach eingehender Begutachtung fünf Minuten später nicht hätte beschreiben können.
    „Hallo“, sagte das Mädchen schüchtern. Sie schien noch langweiliger zu sein, als er sie sich vorgestellt hatte.
    „Na, dann komm mal mit!“ Er nahm ihr den Koffer ab und lief schweigend neben ihr her, bis sie das Auto erreicht hatten. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, sie mit einem freundlichen „Schön, dass du da bist“, zu begrüßen, aber die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen. Ihm schwante Böses.
    Allmers begann ein harmloses Gespräch über die Reise, die Züge der Bahn und das Wetter in Stuttgart. Er musste sich sehr konzentrieren, ihre Antworten zu verstehen, sie sprach sehr leise.
    „Trinkst du Kaffee mit?“, fragte er in der Küche, als sie nach einer Fahrt, bei der die Unterhaltung fast ausschließlich von ihm bestritten worden war, auf dem Hof angekommen waren.
    Nina nickte. Allmers setzte Wasser auf und zeigte Nina ihr Zimmer.
    „Schön“, kommentierte Nina und das erste Mal bemerkte Allmers im Ton ihrer Stimme eine Veränderung. Er freute sich, denn sie schien es ehrlich zu meinen.
    „Wenn du dich eingerichtet hast“, sagte er und schloss das Fenster, „kannst du ja wieder in die Küche kommen. Bad und Klo sind gegenüber.“
    Nina nickte und begann ihren Koffer auszupacken.
    „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Nina riss Allmers aus seinen Gedanken.
    „Bitte?“
    „Störe ich Dich?“, fragte sie höflich.
    „Nein“, log er, „das wäre ja ein unangenehmer Besuch, wenn er gleich zu Beginn stören würde. Komm, setz’ dich“.
    „Hier!“ Sie streckte ihm ein Paket entgegen. „Mein Mitbringsel“.
    Allmers begann auszupacken.
    „Ein Buch“, Allmers freute sich ehrlich. „ Kubanische Kriminalgeschichten . Ausgewählt und übersetzt von Lotte Osnabrück. Interessant?“ Nina nickte begeistert: „Ich habe das Buch schon gelesen. Teilweise sind die Geschichten unglaublich spannend. Vor allen Dingen… gib mal her“, sie nahm ihm das Buch aus der Hand. „Hier“, sagte sie nach einigem Blättern: „Raffaelitas Rache. Eine bitterböse Kurzgeschichte. Mama hat gesagt, dass du sehr viel liest?“
    Allmers nickte. Seit er alleine auf seinem kleinen Hof lebte, vertrieb er sich die Zeit meistens mit Lesen. Seine Arbeit als Milchkontrolleur war abends und morgens zu erledigen, die Bürokratie dabei war überschaubar und so hatte er über Tag oft mehrere Stunden, die er mit dem Lesen von Literatur füllen konnte. Er hielt sich keine Zeitschriften, Illustrierte waren ihm zuwider und die tägliche Zeitung überflog er meistens nur flüchtig. Wie alle Dorfbewohner sah er als Erstes nach den Todesanzeigen, das andere, wie die Berichte von den Jahreshauptversammlungen der Kaninchenzüchter oder der Angelvereine interessierte ihn nicht.
    Meistens nahm sich Allmers literarische Themengebiete vor, die er dann lesend bearbeitete. Im letzten Jahr hatte er sich mit österreichischer Nachkriegsliteratur beschäftigt, danach hatte er sich die modernen Amerikaner wie Updike, Roth oder Boyle vorgenommen. Manchmal durchbrach er aber die

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