Milchfieber
jahrelang verfolgt. Sie war vor vier Wochen fünfzehn geworden und hatte eigentlich geplant, in den Ferien mit ein paar Freundinnen alleine nach Italien zu fahren. Die Diskussion mit ihren Eltern darüber dauerte keine drei Minuten. Türenknallen und Heulkrämpfe, eigentlich bewährte Mittel, die Eltern umzustimmen oder zumindest eine weitere Debatte zu erzwingen, halfen diesmal nicht. Das Nein der Eltern war eindeutig und es tröstete Nina nur wenig, dass auch die Eltern ihrer Freundinnen bis auf eine Ausnahme ebenso hart geblieben waren. Als Alternative boten die Eltern den Urlaub bei ihrem Onkel an und zu ihrer Überraschung war Nina sofort einverstanden gewesen. Die legere, manchmal lässige und ein bisschen faule Art von Hans-Georg hatte Nina schon immer mehr imponiert, als er ahnte. Drei Wochen wollte sie bleiben, ihre Mutter Rosemarie hatte Allmers nicht gefragt, ob er mit der Länge des Besuchs einverstanden wäre, sie hatte ihm das einfach mitgeteilt.
Nina fuhr auf dem Fahrradweg ins Dorf. Was für ein gesichtsloses Kaff, dachte sie enttäuscht. Sie konnte sich von früheren Besuchen nicht mehr an Einzelheiten erinnern, sie hatte ein kleines norddeutsches Fachwerkdorf mit Reetdachhäusern erwartet und sah erstaunt, dass es im ganzen Dorf davon nur ein einziges gab. Die Hauptstraße, die durch das Straßendorf führte war gesäumt von Supermärkten, Drogerieketten und leer stehenden Geschäften. Nach einigem Herumfahren fand sie schließlich einen kleinen Weg, der durch eine öde Neubausiedlung an den alten Deich führte. Nina schob das Fahrrad auf den mit Gras bewachsenen Deich hinauf und sah erstaunt über das Land. Vor ihr lag eine Landschaft, die sie so noch nie gesehen hatte. Wiesen zogen sich fast bis an den Horizont, wo sie den nächsten, noch höheren Deich erkennen konnte und als sie plötzlich einen großen Containerfrachter bemerkte, der wie von einem Seil gezogen oben auf der Deichkante entlang zu schwimmen schien, war sie endgültig begeistert. So etwas kannte sie aus ihrer Heimat nicht. Die Schiffe, die sie manchmal auf dem Neckar beobachtete, kamen ihr in der Erinnerung wie kleine Kähne vor, zumindest im Vergleich zu diesem Schiff, das gerade nach Hamburg fuhr. Und ein kilometerweiter Blick war rund um Stuttgart auch nicht vorstellbar. Ein Blick dort über das Land blieb meistens an Straßen, Wäldern oder dem nächsten Dorf hängen. Hier sah sie kilometerweit bis zur Elbe und die schwarzen und braunen Punkte, die die Rinder auf das Grün des Landes malten, die Stille, die sie umfing, als sie auf der anderen Seite des Deiches herabstieg und auf einem kleinen Weg fuhr, ließ sie ihren Entschluss, hier her zu fahren anstatt nach Italien, immer besser werden. Sie wunderte sich selbst ein wenig über sich, eigentlich war sie sehr umtriebig, traf sich laufend mit Freunden und Freundinnen und hielt es kaum zu Hause, wo immer sehr großen Wert auf Ruhe gelegt wurde, aus. Aber hier schien alles anders. Sie freute sich, alleine zu sein und mit niemanden reden zu müssen. Zufrieden radelte sie am Fuß des Deiches entlang, überquerte die große Straße, die nach Krautsand führte und erreicht nach ein paar Minuten den neuen Deich, der viel mehr als der alte den Eindruck machte, das Land zu beschützen, das ihm anvertraut war.
Die Auffahrt auf die Deichkrone war lang und ein heftiger Wind schien etwas dagegen zu haben, dass sie den Deich erobern wollte. Als sie endlich oben angekommen war und das erste Mal in ihrem Leben bewusst den kilometerbreiten Fluss sah, blieb ihr vor Staunen der Mund offen. Die Elbe badete glitzernd in der Sonne. Sie ließ die Macht dieses gewaltigen Stromes auf sich einwirken und ihr Staunen wandelte sich in grenzenlose Bewunderung für die selbstverständliche Autorität, mit der dieses Wasser hier alles beherrschte: von den kleinen Segelbooten, die scheinbar zu Hunderten das Wasser mit weißen Flocken betupften bis zu den großen Ozeanriesen, die sich langsam nach Hamburg schoben: sie alle wären nichts ohne den Fluss, ohne die Elbe. Selbst das Ufer und das gegenüberliegende Land waren nur mit dem Fluss zusammen vorstellbar. Das Land und der Fluss bildeten eine Einheit, obwohl sie so verschieden waren, überlegte sich Nina. In der Schule belegte sie als Wahlfach Philosophie und sie fand, dass sie gerade jetzt enorm davon profitierte. Sie war sehr stolz auf ihre Betrachtungsweise.
Die Spaziergänger auf dem asphaltierten Deichweg, von denen manche stumm an ihr vorbei
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