Milchfieber
gegangen waren, andere hatten sie freundlich gegrüßt, wurden gegen Abend weniger. In der Ferne sah sie einen Mann auf einem gelben Postfahrrad näher kommen und sie fragte sich, warum der Postbote immer noch arbeitete. Es ging mittlerweile auf sechs Uhr zu und ihr wurde langsam kühl.
Nina stand auf, ärgerte sich, dass sie keine Jacke mitgenommen hatte und hob ihr Fahrrad auf. Der Mann auf dem Postrad fuhr an ihr vorbei, sah sie dabei die ganze Zeit an, Nina hatte dabei das Gefühl, er könne seinen Kopf wie eine Eule drehen, kam aus dem Gleichgewicht und rollte den Deich hinunter. Erst langsam, dann immer schneller. Die Bremsen, dachte Nina, warum bremst er nicht einfach, aber der Mann schien sehr behäbig und unbeweglich und rollte auf dem Sandstrand aus. Nina lachte laut auf, was ihr im gleichen Moment Leid tat, so böse wurde sie von dem Fremden gemustert.
Plötzlich bekam Nina Panik, eine unbestimmte Furcht vor dem Mann erfasste sie, sie sprang auf ihr Rad und fuhr, so schnell sie konnte in Richtung des Dorfes. Als sie sich nach einer Weile umdrehte, war der Mann verschwunden. Erleichtert strampelte sie nicht mehr so heftig, fuhr gemütlich die Landstraße entlang, ab und zu aufgeschreckt von einem schreienden Kiebitz oder krächzenden Möwen. Sie war alleine, kein Auto fuhr um diese Zeit noch auf der abgelegenen Strecke. Als sie hinter sich plötzlich ein regelmäßiges Quietschen und Schnaufen hörte, kam die Panik wieder. Der Mann mit dem gelben Rad fuhr nur noch zwanzig Meter hinter ihr. Er trat ruhig und beharrlich in die Pedale, als ob er zu wissen schien, dass Ausreißversuche ihr nichts nutzen würden. Nina war erschöpft, sie versuchte mit aller Kraft schneller zu treten, aber der Abstand wurde stetig geringer. Sein kraftvoller Tritt in die Pedale brachte ihn immer näher, so nahe, dass er sieschließlich hätte vom Rad reißen können. Er grinste sie blöde an und schnaufte und schien sich daran zu weiden, dass sie vor Angst schier umkam. Das Gesicht des Mannes war verschwitzt, die Haare klebrig und seine Kleider starrten vor Dreck. Am ekelhaftesten fand sie seine Hände, die sich an den Lenker krallten: er hatte jeden Finger mit Leukoplast umwickelt, nur die Fingerspitzen mit langen Fingernägeln ragten aus der schmutzigbraunen Wicklung heraus.
Sie stand vom Sattel auf, trat mit aller Kraft in die Pedale, aber der Mann hielt problemlos mit, er schien trotz seines teigigen Körpers voll nicht erlahmender Kraft zu stecken. Es war noch weit bis zum Dorf, in der Ferne erst sah sie den Kirchturm und die hinter dem Dorf in den Himmel ragenden Windkraftanlagen. Der Mann fuhr noch näher auf, setzte zum Überholen an, blieb aber auf gleicher Höhe, schnaufte laut und streckte die Hand aus.
Nina bremste scharf, der Radfahrer reagierte zu langsam und fuhr ein paar Meter weiter, bis er zum Stehen kam. Nina versuchte seine Überraschung auszunutzen, überholte ihn und hatte schnell ein paar Meter Vorsprung gewonnen. Der Mann schien plötzlich aufzugeben, er ließ ihr den Vorsprung und als sie die Lücke des alten Deiches durchquert hatte und die ersten Siedlungshäuser des Dorfes auftauchten, dachte sie, sie sei in Sicherheit.
Kapitel 9
Horst kam erst wieder zu Sinnen, als es langsam dunkler wurde und die ersten Kühe vor dem Stall standen, weil sie gemolken werden wollten. Er lag wie betäubt in der Heuscheune und hatte den Spaten fest umklammert.
Nach langem Zögern stand er auf und wagte sich ängstlich ins Freie. Vielleicht war es schon zu spät, dachte er und er wäre nicht überrascht gewesen, jeden Moment die Sirenen der Polizei zu hören.
Er schlich ins Haus und öffnete vorsichtig die Tür zur Küche. Als er eintrat, erstarrte er. Lissy saß am Küchentisch und trank Kaffee.
Horst baute sich vor Lissy auf: „Hast du die Polizei schon angerufen?“, fragte er aggressiv.
Sie begann sofort zu weinen: „Er mich vergewaltigt“, schluchzte sie, „ich so froh, dass du gekommen bist. Du mir Leben gerettet.“ Sie verhaspelte sich aufgeregt in der deutschen Sprache und brachte kaum einen richtigen Satz hervor.
Horst war sprachlos. Lissy schien ihm tatsächlich dankbar zu sein, dass er ihren Cousin umgebracht hatte.
Lissys Gesicht war schnell tränenüberströmt, sie zitterte am ganzen Körper und sie weinte so herzzerreißend, dass Horsts anfängliche Wut und Verbitterung verflog.
„Setz dich zu mir!“, bestimmte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte und klopfte mit der Hand neben sich
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