Milchfieber
Systematik, besonders wenn es langweilig zu werden drohte. Dagegen half meistens ein Gedichtband von Robert Gernhardt. Allmers war kein Freund von Leihbüchereien, er wollte Bücher, die er einmal gelesen hatte, besitzen und in sein Regal stellen. Weniger aus Besitzerstolz als aus dem Gefühl heraus, der Autor habe ihm schließlich das Buch anvertraut und zum Aufbewahren gegeben. So musste er fast jedes Jahr irgendwo im Haus ein neues Regalbrett anbringen, auf dem sich nach ein paar Monaten wieder die Bücher stapelten.
Nina sah staunend auf die Bücherberge. Allmers bemerkte das mit einer Mischung aus Stolz und der Erwartung, Nina würde die unvermeidliche Frage stellen. Die Frage, ob er denn all diese Bücher auch gelesen habe, schien jeder, der zum ersten Mal seine Wohnung betrat, stellen zu müssen. Und jedes Mal ärgerte sich Allmers über die Einfallslosigkeit der Menschen. Im Grunde unterstellten sie ihm mit der Frage, dass er Bücher kaufen würde, um sie dann ungelesen wegzustellen. Er beschloss, diesmal nicht ärgerlich zu sein, zu jung erschien ihm seine Nichte, als dass er sie mit seinen Marotten drangsalieren sollte. Aber Nina stellte die Frage nicht, was Allmers sehr positiv auffiel.
Stattdessen bemerkte sie: „Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich ein Buch lese, das mir sehr gut gefällt. Ich verschlinge es meistens, mache dann nichts anderes mehr und bin manchmal an einem Nachmittag damit durch, besonders, wenn es nicht so dick ist.“
Allmers verstand nicht, was sie meinte: „Bücher verschlingen ist doch nichts Schlimmes“, bemerkte er und drehte sein Buchgeschenk in den Händen.
„Ich stelle mir immer vor“, erklärte Nina, „wie der Autor Wochen oder Monate über dem Manuskript hockt, es immer wieder korrigiert, wie es dann im Verlag geprüft wird, gesetzt, gedruckt und ausgeliefert und schließlich verkauft wird. Eine irre Arbeit, geht über Monate, vielleicht Jahre. Und ich brauche ein paar Stunden, lese es, lege es weg und sehe es nie wieder an, weil schon das nächste Buch lockt.“
Allmers musste sich eingestehen, dass er seine Nichte unterschätzt hatte. So hatte er selbst noch nie über Lesen nachgedacht. Dann wurde er doch noch ärgerlich:
„Schmeißt du deine Bücher einfach aufs Regal, oder hast du eine unsichtbare Ordnung?“, fragte sie, nachdem sie eine Zeitlang die Regale inspiziert hatte.
„Ich weiß genau“, erwiderte er gereizt, „wo welches Buch steht. Wir sind hier nicht in Schwaben.“
„Ich meine ja nur“, erwiderte sie kleinlaut. „Bei dir steht Thomas Mann neben Grisham und Lenz neben Andersch. Da findet sich doch keiner zurecht. Mein Vater ordnet die Bücher nach einem bestimmten System. Alphabetisch und akribisch genau.“
„Ich hätte nicht gedacht“, sagte Allmers bissig, „dass dein Vater Bücher liest.“
Immer noch wütend, begann er, ein wenig durch die „Kubanischen Kriminalgeschichten“ zu blättern. Nina begann, die Geschichte über „Raffaelitas Rache“ zu erzählen, aber Allmers unterbrach sie schnell: „Nicht erzählen, ich will es selber lesen.“
„Was machen wir heute Nachmittag?“, fragte das Mädchen.
„Heute Nachmittag?“, Allmers war entsetzt. Er hatte nicht damit gerechnet, seiner Nichte ein Unterhaltungsprogramm bieten zu müssen. „Ich muss arbeiten, ich habe eine Kontrolle bei Damann.“
Nina zuckte mit den Schultern: „Entweder komme ich mit oder ich fahre ein bisschen mit dem Fahrrad herum. Hier ist ja alles so schön flach.“
„Mein altes Fahrrad steht im Schuppen. Wir können ja mal nachsehen, ob es noch Luft braucht.“
Allmers ging erleichtert ins Haus zurück. Seine Nichte hatte das Fahrrad für gut befunden, es hatte zu seinem Erstaunen keine Luft benötigt und sie war sofort los gefahren, die Gegend zu erkunden. „Um sieben bin ich zu Hause“, hatte Allmers hinter ihr her gerufen. „Dann ist auch das Abendbrot fertig.“ Nina war schon aus der Hofeinfahrt auf die Straße gebogen, als sie zum Zeichen, dass sie alles verstanden hatte, kurz den Arm hob. Allmers war froh, sie eine Zeitlang nicht zu sehen.
Das kann heiter werden, dachte er.
Kapitel 8
Nina war schon mehrmals in Norddeutschland gewesen, als kleines Kind hatte sie öfter mit ihren Eltern ihre Großmutter besucht, Allmers hatte sich damals kaum um sie gekümmert. An die Beerdigung, ihrem letzten Besuch auf dem Hof, wollte sie sich nicht erinnern. Die Vorstellung, dass ihre Großmutter ermordet worden war, hatte sie
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