Milchschaum
gemeint, sich einem Priester anvertrauen zu müssen. Dabei hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie ein mit anonymer Stimme im Beichtstuhl geflüstertes »Absolvo te« nicht als Generalamnestie verbuchen konnte. Daraufhin hatte sie entschieden, mit ihrer Schuld zu leben und sich möglichst keine weitere aufzuladen.
»… Rosie Hübler eine Eingabe an die Diözese gerichtet«, hörte sie Frau Praml sagen, »die Pfarrstelle schnellstens richtig zu besetzen. Wir Mädels vom Frauenbund«, Frau Praml kicherte albern, »haben alle geschlossen unterschrieben.«
»Steht Togo-Franz noch immer unter Verdacht, der Schuldige zu sein?«, fragte Fanni interessiert.
»Unter Verdacht – schuldig«, ereiferte sich Frau Praml. »Ein Geistlicher! Eine glasklare Quelle der Reinheit! Frau Rot, wo denken Sie hin?«
»Ich dachte, Sie hätten neulich so was angedeutet«, sagte Fanni.
»Nie im Leben«, widersprach Frau Praml vehement. »Obwohl es allmählich Zeit wäre, zu erfahren, woher Togo-Franz kam und wohin er so eilig wollte, als ihn die Schützen nach dem Begräbnis des Bürgermeisters auf dem Friedhof gesehen haben.«
Höchste Zeit, dachte Fanni und sah auf die Uhr. Kurz nach drei. Wenn es Sprudel gelungen war, Togo-Franz nach der Seniorenmesse in ein Gespräch zu verwickeln, dann könnte die Information bereits zum Greifen nahe sein.
Sie hörte Frau Praml weitersprechen: »… und Elsie hat zu Rosie gesagt, sie wird es schon noch aus Togo-Franz herausholen, was ihn auf dem Friedhof umgetrieben hat, während unser verehrter Pfarrer Winzig im Sterben lag – in Zeichensprache, wenn nötig.«
»Elsie legt sich ganz schön ins Zeug«, meinte Fanni dazu.
»Sie ahnen ja nicht, Frau Rot«, fuhr Frau Praml fort, »wie sehr sich Elsie dem Pfarrer verbunden fühlte, wie sehr sie ihn gebraucht hat – und er sie. Elsie hat sich um die leiblichen Bedürfnisse unseres verehrten Herrn Pfarrers gekümmert. Er wiederum war ihr in ihren inneren Nöten eine große Stütze. Rosie hat sich oft über das enge Verhältnis der beiden mokiert, aber Elsie hat immer gesagt: ›Pfarrer Winzig ist ein Heiliger, er ist der Hüter meiner Seele.‹«
Fanni stand auf und bereitete in der Küche für Frau Praml einen neuen Latte macchiato zu. Als sie ihr das volle Glas in die Hand drückte, fragte sie: »Hatte Elsie Angst, ihre Seele könnte sich verflüchtigen?«
Frau Praml ließ den Löffel, mit dem sie sich eben über den Milchschaum hermachen wollte, wieder los und sah Fanni konsterniert an. Fanni bereute ihren Zynismus sofort.
Reiß dich zusammen, rüffelte sie sich, hier sitzt nicht deine Tochter Leni, die vermutlich antworten würde: Psychiatrische Kliniken sind voll von Leuten, denen die Seele abhandengekommen ist.
Hier sitzt auch nicht Sprudel, der sagen würde: Angst, die eigene Seele zu verlieren, das klingt pathologisch.
Hier sitzt Frau Praml, die erwartet klare Fragen – eindeutige Fragen.
»Ich meine«, stotterte sie, »leidet Elsie Kraft unter einer Gemütskrankheit?«
Frau Praml nahm den Löffel wieder auf und seufzte. »Die Elsie hat’s halt nicht leicht gehabt im Leben. Wissen Sie, Frau Rot, Elsie hatte zwei Brüder, und wie es früher eben so war – manchmal auch heut noch –, haben die Buben den Eltern viel mehr gegolten als das Mädel. Wenn Elsies Brüder die Nachbarskinder mit Mäusekadavern bombardiert haben, dann hat es geheißen: ›Mei, sind halt Buben.‹ Für jede Schandtat hat diese dumme Entschuldigung herhalten müssen.
Die arme Elsie hat zudem noch das Pech gehabt, dass sie so ein kränkliches Kind gewesen ist. Dünn, blass, mit blauen Ringen unter den Augen. Dass sie der Vater – und später auch die Brüder – regelmäßig verprügelt haben, war ihrer Gesundheit auch nicht gerade zuträglich. Glauben Sie mir, Frau Rot, ich weiß, wovon ich rede. Ich bin eins dieser Nachbarskinder gewesen. Mit sechzehn haben Elsies Brüder bereits angefangen, diese Nietenhosen zu tragen, die damals gerade aufkamen, und es hieß, in ihren Gesäßtaschen steckten Totschläger.«
Frau Praml ballte eine Hand zur Faust und hielt sie Fanni entgegen. »Das sind Stahlringe, die eine Boxhand zum tödlichen Werkzeug machen. Ja, Elsies Brüder sind von Jahr zu Jahr schlimmer geworden. Irgendwann war es dann so weit, dass die Buben ihre eigenen Eltern gepiesackt haben. Der eine hat sich später einer Gruppe von Motorrad-Rowdys angeschlossen, hat den Eltern für seinen Motorsport viel Geld aus der Tasche gezogen. Er und seine
Weitere Kostenlose Bücher